Natalja – Berdjansk

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Beginnen möchte ich nicht mit dem Krieg selbst, sondern damit, womit für uns der Krieg begonnen hat. Das war noch vor dem Dezember 2021. Ich arbeitete damals noch in der Schule, und wir erhielten verschiedene Nachrichten per E-Mail, wonach die Schule vermint sei. Als wir das erste Mal diese Meldung lasen, ging sie gleich auch an den Direktor und die zuständigen Behörden, und schließlich kam eine Drohung mit Erpressung, wonach wir innerhalb von zwei Stunden eine bestimmte Summe hinterlegen sollten. Da hieß es dann, die Kinder ohne Aufsehen rauszubringen und den Kindern sagen, das würde alles nur eine Viertelstunde dauern, ein Alarm eben. 

Wir dachten ja auch tatsächlich, es handle sich um einen Probealarm, aber dann begriffen wir, dass es ernst war. Die Kinder freuten sich nach dem Motto: Hurra, die Schule brennt… Und dann sagte der Direktor, wir sollten die Kinder heimschicken. Tatsächlich hieß es in einem Telegramm, die Schule sei wirklich vermint. Dergleichen wiederholte sich dann ständig, zwei bis drei Mal in der Woche mussten wir bis Mitte Dezember die Schule schließen. Die Eltern wurden natürlich unruhig, und so führten wir Fernunterricht ein und wollten im Januar wieder richtig in Präsenz unterrichten. Für jede Schule wurden Polizisten abgestellt, die bei eingehender Drohung das Gebäude durchsuchten, während wir weiterarbeiteten; wir verständigten die Eltern und gaben ihnen die Möglichkeit, die Kinder heimzuholen. Das setzte sich so bis in den Februar hinein fort. Immer mehr Schulen waren davon betroffen, auch in anderen Städten, sogar in Kiew. Man wollte damit wohl ein Gefühl der Unsicherheit und des Misstrauens gegenüber der eigenen Regierung schüren. Nach der Art: Die können euch eh nicht helfen. Und dann hatten wir ja auch noch mit Covid zu kämpfen.

Am 24. Februar hatte ich keinen Unterricht, ich wachte um fünf Uhr durch einen Knall auf. In meiner Klasse hatte ich ein Kind, dessen Vater beim Grenzschutz diente. Ich rief bei dessen Frau an, die mir sagte: „Krieg, wir fliehen…“ Da rief auch schon meine Tochter an und fragt, ob wir fliehen sollten. Aber wohin denn? Ich schlug vor, auf die Datscha zu ziehen. Da sollte es wohl ruhig bleiben. Und so machten wir das dann auch gleich am ersten Tag. In der Stadt erschien es uns zu unsicher, aber auf der Datscha hatten wir alles, ein kleines beheizbares Haus, einen Garten… Da konnten wir bleiben. Meinten wir zumindest.

Wir hörten natürlich ständig Radio, waren im Internet unterwegs, und plötzlich standen die Russen nur noch wenige Kilometer vor der Stadt. Das war schon am 25. Februar abends. Beschossen haben sie Berdjansk aber nicht. Es drangen vielmehr technische Einheiten ein, um die Okkupation gut vorzubereiten. Jedenfalls sagte man das. Als sie kamen, gingen sie nicht die Hauptstraßen entlang, sondern zogen durch die Nebenstraßen. Alles ohne dass ein einziger Schuss fiel. Die Russen hatten oft keine oder veraltete Karten und fragten sich bei den Einheimischen durch, von denen sie oft auf Umwege geschickt wurden, was dazu führte, dass sie lange für ihren Einsatz brauchten. Inzwischen hatten sich Einwohner friedlich versammelt und gaben den Russen zu verstehen, sie seien hier nicht willkommen, man wolle von ihnen nicht befreit werden. Auch Stadträte versuchten, die Russen zu überzeugen, sie sollten besser abziehen. Und tatsächlich ließen sie das Rathaus und den Hauptplatz in Frieden. Ungefähr eine Woche lang hielten sich die Russen nur in der Kaserne auf, erkundeten das Gelände, und noch einen ganzen Monat lang gab es Kundgebungen zur Unterstützung der Ukraine. 

Die letzte Protestaktion wurde von Soldaten umstellt, die Maschinenpistolen trugen, und dann hieß es, das sei das letzte Mal, das nächste Mal werde man mit uns in der Sprache der Gewehre sprechen. Das war schrecklich, wir begriffen, dass wir verloren hatten. Immer von 12.00 Uhr bis 13.00 Uhr standen wir da friedlich und brachten unseren Widerstand zum Ausdruck, aber nun war es aus. Für viele war das eine schreckliche Belastung, all die Waffen zu sehen, die man auf uns richtete. Viele meiner Kollegen bekamen Depressionen und leiden bis heute darunter. Nach diesem Vorfall blieben die Leute jedenfalls zu Hause, während die Besatzer die Aktivisten einsammelten und festsetzten. Wir bleiben von da an auf der Datscha am Stadtrand. 

Einmal sprach ich mit einer Nachbarin, die für die „Russische Welt“ eingenommen war, und wir gingen richtig aufeinander los. Mir wurde nach der Polemik ganz bange, vielleicht hätte ich den Mund halten sollen, denn so hatte ich ja meine ganze Familie in Gefahr gebracht. Ich erzählte es meinem Mann, aber der meinte, ich solle die Sache vergessen. Wir würden uns weiter verstecken. 

Unterdessen wurde ich in die Schule zurückgerufen. Vor dem Krieg waren wir gut ausgestattet – genug Computer, Notebooks für alle Kinder, ein 1-A-Physikzimmer. Unsere Schule gehörte zu den besten in der ganzen Region Saporischschja. Unterricht fand natürlich nach Ausbruch des Krieges nicht mehr statt. Die Russen hatten ja nun das Sagen, stellten den Unterricht um, brachten ihre eigenen Lehrbücher und Lehrpläne. Wie weit das mit der Russifizierung ging, zeigt ein Beispiel. Eine Kollegin, unsere Chemielehrerin, erhielt einmal um sechs Uhr morgens in ihrer Wohnung unangekündigten Besuch, um ihr die Grundlagen der russischen Chemie näherzubringen. Sie meinte darauf, H2O sei auch in Afrika das gleiche Element. Sie solle nicht so frech sein, wurde ihr beschieden…

Man rief uns also in die Schule zurück. Das Gebäude wurde zwar nicht mehr beheizt, aber wir sollten dort Präsenz zeigen. Es war Anfang März, die Temperaturen lagen niedrig. In der Zeit lief der Angriff auf Mariupol. Deshalb kamen von dort viele zu uns. Und die meisten brachte man in den Schulen unter. Die Eltern schleppten Decken an, kochten für die Flüchtlinge, die in der Turnhalle auf dem Boden schliefen – mit Kindern, Haustieren. Viele waren zu Fuß gekommen und unglaublich dankbar für jedes Stück Brot, jeden Schluck heißen Wassers. Besonders erinnere ich mich an die Mutter eines achtmonatigen Kindes, das sie schon einen Monat nicht mehr gebadet und frisch gewickelt hatte, weil sie im Keller lebten. Am Hintern hatte das Kind vom eigenen Kot, eine riesige Wunde, die wir dann behandelten… Auch Lehrer kamen aus Mariupol, von denen jetzt einige wieder dort unterrichten, nachdem sie die Seiten gewechselt hatten. Ein Lehrer aus Mariupol meinte, man hätte uns dort vielleicht ganz anders behandelt, nicht so gut aufgenommen. Wir jedenfalls waren gastfreundlich. Ich hätte auch noch jemanden in unserer Stadtwohnung untergebracht, aber ohne Heizung… Dennoch brachten viele die Binnenflüchtlinge bei sich unter. 

Wir verhängten die Fenster, damit man uns nachts nicht von der Straße aus sehen konnte, auch die Straßenbeleuchtung stellten wir aus, denn wir hatten Angst vor Bomben. Es herrschte ja auch am Himmel Krieg. Und so war es wirklich schrecklich dunkel, man traute sich kaum mehr raus auf die Straße.

Eines Nachts war zu hören, wie sich eine Kolonne in Bewegung setzte. Wir sahen nichts, hörten nur die Motoren: ein furchtbarer Lärm. Wir mussten uns alles selbst zusammenreimen, denn es gab keine Informationen. Das Internet und die Telekommunikation waren gestört, nur wer Satellitenfernsehen hatte, konnte wissen, was passierte. Die Russen hatten ja unsere Radiosender gekapert und brachten ihre eigenen russischen Nachrichten – darüber, wie gut es uns unter den Russen gehen werde. Wir tauschten uns mit den Nachbarn aus. Der eine wusste mehr, die andere weniger. Viele hatten ja auch schon Verwandte und Bekannte im Ausland. Wir hörten von den Evakuierungszügen mit all dem Gedränge, hörten von Kranken in U-Bahn-Stationen, hörten von Schüssen auf Zivilisten. Überall ging die Todesangst um. Und wer konnte, floh. Meine jüngere Tochter aus Kiew ist zum Beispiel in der Februarkälte, eine Reisetasche in der Hand und bei ihrem Husten, 30 km bis zur polnischen Grenze gelaufen. Durchgehalten, erzählte sie später, habe sie nur, weil die Einheimischen ihr immer wieder etwas zum Essen gaben und sie aufs Klo ließen.

Jeden Morgen lärmten über uns die Flieger von der Krim hinweg, die dann Mariupol bombardierten. Ich wünschte mir so, dass sie abstürzten. Eines Tages kam dann aber eine Maschine, die den Dreizack aus der ukrainischen Flagge in den Himmel malte. Für uns ein Zeichen der Hoffnung: Bald werden sie kommen und uns befreien. 

Unsere Jugend in Berdjansk ist recht patriotisch gestimmt. Eines Tages kam ein Raketenwerfer-System BUK vorbei, auf den die jungen Leute einen Molotow-Cocktail warfen. Es passierte nichts weiter, die Soldaten konnten die Flammen löschen. Ein Mädchen, das die Flasche geworfen hatte, wurde später festgenommen. 

So richtig schrecklich aber wurde es nach Butscha. Mein Mann und ich machten uns Sorgen um die Kinder und räumten den Keller aus. Aber wir wollten die Kinder ja überhaupt wegschicken. Die schwangere Tochter und ihr kleiner Sohn hatten schon bald alles beisammen. Von Mariupol kam eine Kolonne, der sie sich anschließen konnten, denn sie sollten unbedingt raus. Und so kam dann Mitte März der Tag des Abschieds: Mehr als 1.000 Autos waren da unterwegs. Auch meine Freundin mit ihrer Enkelin war dabei. Deren Tochter machte vor dem Krieg Urlaub in den Emiraten, wo man sie positiv auf Covid getestet hatte. Ergebnis: Quarantäne über die ganze Zeit ihres Urlaubs, – und da begann der Krieg. Keine Flugverbindung mehr, dabei war die Tochter noch in Berdjansk. Die Eltern überredeten sie, dort zu bleiben. Die Oma brachte dann die Kleine nach Polen – in einem Auto, das überall mit Rot-Kreuz-Zeichen vollgeklebt war. Aber man riet ihr, sie abzunehmen, weil das die Russen erst recht provozieren könnte, das Fahrzeug zu beschießen. Also machte man alle Aufkleber wieder weg, übrig blieb nur das Piktogramm für Kinder.

So ging das drei Wochen. Mein Mann und ich alleine auf der Datscha. Dann hieß es, die Stadt werde bald geschlossen. Meine beiden Töchter riefen an, mein Schwiegersohn meldete sich. Alle mit der gleichen Aufforderung: nichts wie raus. Wir gaben dann alles aus dem Kühlschrank Freunden, ließen die Schlüssel zum Haus denen, die bleiben wollten. Ich sagte meinem Direktor Bescheid, und so fuhren wir mit dem Auto, einen Kanister Benzin an Bord, nach Saporischschja, also etwa 200 km weit. Für die Strecke brauchten wir 11 Stunden. Manchmal dauerte es aber auch zwei bis drei Tage. Die Russen hatten 17 Kontrollpunkte eingerichtet, wo alle Dokumente und Handys überprüft, alle Koffer geöffnet wurden. Wir sprachen nicht mit den Posten, um nichts Falsches zu sagen. Für meinen Mann war das eine schlimme Belastung. Danach wollte er die Strecke nicht mehr zurück, er wollte die Erniedrigungen und Beleidigungen nicht noch einmal über sich ergehen lassen. 

In unserer Kolonne waren vielleicht 200 Autos. Wie lange das dauerte… Wir hatten ja die Oma dabei, sie diente als Grund und Vorwand für unsere Fahrt zur medizinischen Behandlung. Die Posten waren zuweilen Leute von den „Volksrepubliken“, die wild in die Luft schossen, herumfluchten, während andere, wohl vom russischen Geheimdienst, sich zivilisierter verhielten. 

Bei uns war alles so gut entwickelt, uns fehlte es an nichts. Die Stadt wirkte fast wie ein Kurort. Und jetzt musste man immer befürchten, erschossen zu werden. Rechts und links Minen und Nagelbretter. Da verstanden die Russen keinen Spaß. Was für ein Glück, als wir dann aus der russischen Zone herauskamen! Von da an ging es vergleichsweise schnell weiter bis Dnipro. 

Solange in unserer Heimat die Russen sind, will mein Mann nicht zurück. Und ich auch nicht. Mein ganzes Leben – bis hin zur Kleidung – ist dort geblieben. Als Lehrerin ließ ich natürlich all meine Unterrichtsmaterialien vor Ort. Jetzt ist wohl schon viel auf dem Müll gelandet. Eine Kollaborateurin hatte ich gebeten, meine Sachen wegzubringen. Sie meinte, gut, sie wolle das schon machen, nur nicht gleich. Damit ist der Kontakt abgebrochen. Ich verstehe diese Leute nicht, die für die neuen Machthaber arbeiten. Ich würde es verstehen, wenn man Russen dorthin brächte. Aber unsere eigenen Leute, die doch wissen, wie wir Ukrainer unter dem Krieg leiden…

Wir freuten uns natürlich über die Versenkung des Kriegsschiffes, wobei ja die Russen behaupteten, es habe keine Opfer gegeben. Wir wissen, dass das anders ist. Und da tranken wir auf unseren Sieg. Immer trieb uns die Sorge um die Kinder um. Wir wären vielleicht immer noch dort, wenn nicht die Töchter und der Schwiegersohn immer so gedrängt hätten. 

Wer geblieben ist, kommt oft gar nicht mehr aus dem Haus. Viele Kinder und ihre Eltern bleiben einfach daheim. Sie haben oft gar keine Dokumente mehr. Manche Eltern schicken ihre Kinder in unsere und in deren Schule. Sie wissen, dass die ukrainischen Zeugnisse nichts mehr wert sind. Dennoch unterrichte auch ich von Erlangen aus weiter über den Bildschirm. Wir dürfen allerdings jetzt gar nicht mehr fragen, wo die Kinder sich gerade aufhalten. Wer überhaupt den Mund aufmacht, sagt, es fehle an nichts außer der Freiheit. Man hat uns von der Freiheit befreit. Dafür sind die alten Mütterchen aus UdSSR-Zeiten jetzt zufrieden. 

 Mein Schwiegersohn blieb in der Ukraine. Der Freund einer Freundin meiner Tochter lebt in Deutschland, in Erlangen, wohin er schon drei Jahre vor dem Krieg gekommen war. In Dnipro sagte meine Tochter noch, wir sollten gemeinsam nach Deutschland fahren. Aber erst nach einem Alarm ließ sie sich von ihrem Mann nach Lemberg bringen, wo sie zunächst bei einer Freundin unterkam und dann, weil sie ja ein Kind hatte und schwanger war, in einem Hotel einquartiert wurde, bevor sie dann doch mit dem Bus nach Nürnberg und weiter nach Erlangen kam.

Ich blieb noch bei meinem Mann und der Schwiegermutter in Dnipro, obwohl mich meine Tochter immer wieder bat, nachzukommen. Als dann die Geburt anstand, machte ich mich auch per Bus auf den Weg. Ich kam übrigens eineinhalb Stunden zu früh in Nürnberg an. Ohne Adresse, ohne Deutschkenntnisse. Niemand da, um mich abzuholen. So ist halt mein Karma. Umso größer die Wiedersehensfreude, als die Tochter mit dem Enkel dann kam…

Ich glaube noch immer an den Sieg unserer Armee. Dennoch saß ich auf gepackten Koffern. Jetzt wünsche ich mir so, dass auch mein Schwiegersohn kommen könnte. Ich werde eines Tages zurückkehren zu meinem Mann und der Schwiegermutter. So wie übrigens auch schon meine jüngere Tochter wieder in Kiew ist. Hier war ihr alles ein wenig zu sehr gerade und eben, zu ordentlich. Sie braucht das Leben als Feier… 

Nun aber bin ich überglücklich für meine beiden Enkelkinder und die jüngere Tochter. Sie haben sich hier eingelebt und fühlen sich daheim. Ich denke, sie werden bleiben wollen, wenn der Mann und Vater nachkommen kann. Wenn uns und unserem Land niemand mehr die Freiheit nehmen kann.

Aufgezeichnet am 20. November 2022

74 Replies to “Natalja – Berdjansk”

  1. Vielen Dank für diese hervorragenden Seiten. Man kann sie nur in kleinen Schritte lesen, weil es nur schwer erträglich ist!

    Es gibt schon keine salonfähigen Wörter mehr, mit denen man seinen Ekel und die Wut über das Verbrechen, mutwillig und neuerlich Vernichtungskrieg zu beginnen, ausdrücken möchte. Man fühlt sich in die Jahre 1914 und 1939 zurückversetzt …

    Von der NS–Zeit wissen wir, wie lange Zerstörungen und Traumata nachwirken, auch wenn der Wiederaufbau die sichtbaren Schäden beseitigt hat. Und, besonders übel stoßen einem dann Leute auf, die die massenhafte Lügenpropaganda unkritisch oder gar vorsätzlich weitertragen. Insbesondere von Leuten, die geschichtsignorant lautstark etwas von einen „Frieden“ schwafeln. Wohl ein „Friede“, der im Grunde nur den Aggressor belohnen würde.

    Diese Interviews sollten Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und die ganze applaudierende Popolistenschar auf den Straßen und in gewissen Parteistuben zu lesen bekommen!

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