Natalia & Olexandr – Mariupol

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Wir hätten es ja wissen müssen; schließlich wurden immer wieder die im Umkreis von zehn Kilometern liegenden Dörfer und einmal ein Stadtteil am Rand von Mariupol beschossen. Es gab Opfer, wenn auch nicht in dem Umfang. Aber wir wollten es einfach nicht glauben, wir konnten uns schlichtweg nicht vorstellen, dass nun ein richtiger Krieg beginnen würde. Es war der pure Schock.

Am 24. Februar ging es um vier Uhr morgens los. Selbst da dachten wir noch, die Sache würde ein paar Tage dauern und dann wieder – wie in den Jahren zuvor – als eingefrorener Konflikt enden, wohl mit gelegentlichen Gefechten und Artillerieangriffen, aber nicht in dieser Massivität. Doch da war das Putin-Wort, wonach die Ukraine ein Geschenk von Lenin sei, unser Land also gar nicht aus sich heraus ein Recht auf Existenz und Selbstbehauptung besitze. Da wurde klar, wie ernst die Sache war. Dabei lebten wir in einer blühenden Stadt, die sich mit Siebenmeilenstiefeln entwickelt hatte, ganz nach europäischer Lebensart, mit den gleichen Haltestellen oder Kinderspielplätzen wie hier in Erlangen.

Zunächst wurden nur die Außenbezirke von Mariupol beschossen. Spätestens da hätte unser Bürgermeister zur Flucht raten, die Evakuierung anordnen müssen. Stattdessen waren aus dem Fenster zerschossene Autos zu sehen, jede Menge Leichen, einfach schrecklich, unerträglich. Der erste Luftangriff, ein furchtbarer Lärm um halb fünf am Morgen. Uns riss es förmlich hoch, und wir liefen sofort in den Korridor, ein Höllenlärm, wir dachten, gleich werde alles zusammenbrechen. In dem Moment wurde für uns der Tod zu etwas Realem. Diese Todesangst wich nur ganz langsam. Wir wohnten im vierten Stock, schliefen im Korridor und beobachteten aus dem Fenster die Leuchtspuren dieser Raketen. Nicht in Worte zu fassen. Bald schon konnten wir abschätzen, wohin die Geschosse fliegen würden. Schrecklicher als alles waren freilich die Flugzeuge und Hubschrauber. Bis heute zucken wir zusammen, wenn welche über uns hinwegfliegen, sogar hier in Erlangen. Hört man den Lärm, der mit jeder Sekunde lauter wird, legst du dich flach auf den Boden, damit du nicht getroffen wirst, und dann bleiben noch zehn Sekunden bis die Bomben fallen. Je näher der Lärm kommt, desto gefährlicher für einen.

Die ersten zehn Tage erfolgten die Angriffe hauptsächlich mit der Artillerie, dann änderten die Russen die Taktik und setzten auf den Abwurf von Bomben, weil unsere Streitkräfte deren Bodentruppen angriffen. Im Keller war es nicht auszuhalten: kein Mobiliar, nur Rohre, kein Licht und Strom ab dem 2. März, und am 5. März brach auch die Gasversorgung zusammen. In der Wohnung liefen wir bei zwei Grad plus in Decken gehüllt umher. Schließlich blieb uns nichts übrig, als in den Keller zu ziehen; morgens kamen wir dann wieder in die Wohnung hoch. Im Stockwerk über uns lagen zwei Behinderte, die wir mitversorgten.

In den Geschäften herrschte unterdessen gähnende Leere. Für das wenige, was es noch gab, musste man vier Stunden anstehen. Wir hatten ein Handelszentrum, in dem ich arbeitete, doch erst einige später kamen wir zum ersten Mal wieder dorthin: Es sah schrecklich aus, schockierend. Die Jalousien waren automatisch heruntergelassen, und drinnen standen lauter Leute an, die ich gar nicht kannte, jeder nahm sich, was noch da war, sogar die Kinder plünderten. Ich bekam einen richtigen Heulkrampf. Der Drogeriemarkt nebenan, „Natalia“, in der Art von eurem „dm“, wurde auch restlos ausgeräumt. Meinem Sohn gelang es gerade noch, meine persönlichen Sachen rauszuholen, die sich schon eine fremde Frau geschnappt hatte. Die Leute verloren ihr menschliches Antlitz, sie verrohten, vertierten. Warum nehmen die sich einfach alles?

Wir wollten bis zum Ende Menschen bleiben. Als unsere Vorräte zur Neige gingen, aßen wir nur noch einmal am Tag. Doch wie lange würden wir durchhalten können? Wir warteten immer darauf, dass der Krieg zu Ende ginge. Aber der Krieg wollte einfach kein Ende nehmen… Dabei hofften wir so auf Verhandlungen: vergeblich. Wir waren ganz im Zentrum von Mariupol, wie in einem Ring. Es lagen immer mehr Leichen in den Straßen. Schreckliche Szenen. Es dauerte, bis wir begriffen, dass der Krieg noch lange wüten würde. Man versprach, uns zu evakuieren, wir warteten dauernd auf den Konvoi. Doch dann brach auch noch die Wasserversorgung zusammen. Wir standen stundenlang für Trinkwasser an, das man kostenlos brachte, bis es keines mehr gab, bis man auch gar nicht mehr rauskonnte aus dem Keller, wenn man nicht lebensmüde war. Kaum mehr als eine halbe Stunde Feuerpause gönnte man uns. Wir konnten nicht einmal mehr draußen kochen. Meine Mutter wohnt nur zwei Haltestellen von uns, aber es war kein Durchkommen mehr. Am 8. März schafften wir es noch einmal, zum letzten Mal, zu ihr.

Die Leute saßen auf der Straße und kochten auf offenem Feuer. Als es kein Brennholz mehr gab, fällte man die Bäume, zersägte und zerhackte Betten und Matratzen. Was sollte man denn auch tun? Wozu man Menschen bringen kann! Ich beobachtete einmal ein Mädchen, wie es Schnee in eine Plastikflasche füllte, um Wasser zu haben. Wir hatten im Keller ja zumindest noch Brauchwasser zum Händewaschen. Mein Mann und ein Nachbar öffneten die Heizkörper, und so hatten wir Ablaufwasser. Viele hatten nicht einmal mehr das. Einmal schenkte uns ein Soldat seine Ration, damit wir wenigstens etwas zu Essen hatten… Mein Mann bewies in dieser Lage seinen ganzen Mut. Er ging als einziger nach draußen und kochte auf offenem Feuer, während alle anderen im Keller blieben. Als in der näheren Umgebung kein Holz mehr aufzutreiben war, wollte er eine der Feuerpausen nutzen, um in einer Grünanlage Bäume zu fällen. Doch da ging der Beschuss mit Granatwerfern plötzlich wieder los. Ich sah mit Schrecken von oben, wie Mann und Sohn um ihr Leben rannten, ich dachte schon, sie kämen aus der Hölle nicht mehr heraus, aber sie brachten sogar noch „Beute“ mit. Mein Mann buk dann aus Mehlresten eine Art Fladenbrot – im Kugelhagel, unter Minen und dauerndem Beschuss. Wir wollten ja leben und essen, was es gab.

Wir hatten ein großes Ziel: ein Auto nehmen und dieser Hölle entfliehen. Aber einen Tag vor dem Krieg hatte die Batterie des Autos ihren Geist aufgegeben. Es stand 20 Minuten entfernt in der Garage. Doch zu gefährlich der lange Weg dorthin. Vor allem bei dem Häuserkampf, der auch bei uns begonnen hatte. Überall schossen sie mit Maschinenpistolen. Am 14. Tag des Krieges begriffen wir, es würde noch lange dauern. Batterien gab es natürlich keine mehr zu kaufen. Also gingen Vater und Sohn durch die Straßen und suchten in zerschossenen Autos nach einer intakten Batterie. Dafür hatte mein Mann ein Messgerät dabei.

Als die beiden schließlich eine geladene Batterie gefunden hatten, wollten sie sofort los zu meiner Mutter und sie holen. Die beiden hatten ihr Haus fast erreicht, als unsere Soldaten Warnschüsse abgaben, es war kein Durchkommen mehr. Mann und Sohn gerieten mit dieser schweren Batterie ins Kreuzfeuer. Wie durch ein Wunder schafften sie es bis zu dem Haus, wo wir früher wohnten. Da erlitt mein Sohn einen Nervenzusammenbruch. Und meine Mutter, ob sie wohl noch lebte? In dem Haus wohnten nur noch alte Leute. Ein Mann kam auf die Straße heraus, um da zu kochen. Er schlug jede Warnung mit dem Hinweis in den Wind, ihm sei nun schon alles egal. Völlige Ausweglosigkeit.

Nachdem die beiden es nicht zu meiner Mutter geschafft hatten, ließen sie die Batterie bei dem Mann in der Hoffnung zurück, sie später abholen zu können. Und ich hatte die ganze Zeit keine Ahnung, was überhaupt los war. Ich stand Todesängste um die beiden aus, dachte schon, sie würden nie mehr zurückkehren. Unsere Streitkräfte warnten uns, hier werde gleich die Hölle losbrechen, wir sollten weg von hier. Wir liefen, um ein paar Sachen zu holen, denn es war klar, wenn unsere Soldaten schon ihre Stellungen beziehen, würde unser Haus morgen oder übermorgen in die Schusslinie geraten. Wir hatten viele Griechen in Mariupol, und die wurden fast alle evakuiert. Gut gemacht! Aber ob sie alle am Leben blieben, denn die Autos wurden vielfach unterwegs beschossen? Von den einst 80 Wohnungen waren nur noch um die zwanzig Menschen übrig, die im Keller hausten.

Wir wollten nichts wie weg. Am 25. März liefen wir um vier Uhr morgens zum Haus meiner Mutter. Auf den Hof fuhr gerade ein russischer gepanzerter Mannschaftswagen. Von unseren Leuten war niemand mehr zu sehen, sie hatten ihre Stellungen geräumt. Wir ließen dort alle Sachen, die wir aus der Wohnung in den Keller hatten bringen können, und ich nahm nur meine Tasche mit. Das Haus meiner Mutter, in dem ich aufgewachsen bin, war in einem schrecklichen Zustand, überall Löcher von den Geschossen, die Fenster in Scherben. Doch Mutter, Schwester und Nichte waren am Leben. Diese Bilder prägten sich ein, aber wir konnten keine Bilder machen, weil die Russen alle Handys überprüften. Leute wurden zurückgeschickt oder verschwanden ganz. Erst später machten Journalisten und Leute, die dortgeblieben waren, Aufnahmen von den Ruinen. Wir versteckten uns alle im Keller, wo es sogar ein Klo gab. Hier war früher eine Computerschule eingerichtet. Während der ersten Woche konnten wir wegen des Beschusses überhaupt nicht raus. In dem Haus saßen unsere Soldaten, die von den Russen beschossen wurden. Wir hörten, wie unsere Leute über uns einen Granatwerfer hin und her schoben, während wir im Keller gleich in die andere Ecke liefen. Das werde ich nie vergessen.

Dann gingen mein Mann und mein Sohn los, um eine Batterie zu holen, und verschwanden für 24 Stunden. Sie schafften es noch bis zur Garage, aber auf dem Rückweg hatten bereits auf dem Prospekt Panzerschlachten begonnen, und sie kamen nicht mehr über die Straße, um heimzukommen. Ich dachte, sie würden nie mehr zurückkommen. Das ganze Gebäude hatte unter Beschuss gelegen, die riesige schwere Tür war durch die Explosion weggesprengt. Das einzige, was das Auto rettete, war, dass die Garage hinter dem Gebäude lag, aber das Tor war herausgerissen und lag auf dem Auto. Die beide allein schafften es nicht, sie wegzuschieben. Das Auto wäre nicht durchgekommen, es war eine Apokalypse. Auf den Straßen lagen Granatenkrater, Häusertrümmer, Trolleybusse waren umgekippt, wie Szenen aus Andrej Tarkowskijs Film „Stalker“. Überall Leichen, Leichen, Leichen. Die Eltern meiner Cousine sind bettlägerig: die Schwester meiner Mutter und ihr Mann. Er ist dann gestorben, ein ehrenwerter Mann, und wir wussten nicht einmal, wie wir ihn beerdigen sollten. Man begrub die Toten meist in den Innenhöfen. Mein Sohn ist eigentlich ein sehr häuslicher Junge, aber er und ein paar Jungs schleppten die Leichen aus den Ruinen und begruben sie in den Pausen zwischen den Bombenangriffen. Meinen Onkel brachten sie auf die Datscha, sie fanden dafür ein Auto, das man freilich gar nicht einmal als Auto bezeichnen kann, so völlig durchlöchert wie es war.

Als sich die Lage beruhigt hatte und wir herauskamen, lagen Leichen auf der Straße, Trümmer, nicht explodierte Granaten, die aus dem Asphalt ragten, das Grauen pur. Die Stadt lag in Trümmern und war nicht wiederzuerkennen. Wenn ich an das Theater denke, wo tausend Menschen gestorben sind. Nur ein Steinhaufen war noch übrig davon. Als wir schon auf der Krim waren, sagte meine Schwiegermutter: „Lüg nicht, da waren keine Menschen drin, dort war ein Asow-Kommandoposten, auf den wurde eine Bombe geworfen.“ Ein Freund meines Sohnes war dort und ist wie durch ein Wunder entkommen. Warum waren so viele Menschen dort? Es war das Zentrum, von dem aus ein Evakuierungskonvoi starten sollte, wie man den Menschen versprochen hatte. Und wer dort unter den Trümmern hervorkam, wurde beschossen, es gab keinen „grünen Korridor“. Wir fühlten uns im Stich gelassen, von allen vergessen. Keiner konnte uns helfen, keiner hatte mehr die Kraft, sich selbst zu helfen, geschweige denn anderen. Und das Krankenhaus, das durch eine Bombe praktisch zerlegt wurde… Das schrecklichste Bild, das ich gesehen habe, war, als ein totes Kind im Rollstuhl aus dem Krankenhaus geholt und es sich selbst überlassen wurde… Szenen, die man einfach nicht vergisst.

Sogar die Tiere litten schrecklich. Uns kam einmal ein Hund entgegen, halb verhungert, mit Augen, die den ganzen Schmerz des Krieges ausdrückten. So viele verlassene Hunde! Herrenlose Hunde gab es schon vorher viele, aber jetzt irrten sie alle wie Skelette durch die Trümmerlandschaft. Im Keller hatten wir einen Pitbull, dessen Herrchen ihn und seinen zweiten Hund eigentlich hatte einschläfern lassen wollen. Er ließ es dann bleiben, weil man ihm gesagt hatte, er werde dann immer davon träumen. Also setzte er die beiden aus. Einer kam dann aber zurück und suchte sein Herrchen, das nicht mehr da war. Also nahmen wir ihn auf und meinten, durch ihn auch ein wenig Schutz zu genießen. Die Türen waren alle herausgerissen, nachts konnte kommen, wer wollte. Aber das Tier war so eingeschüchtert, dass man nicht einmal mehr mit ihm Gassi gehen konnte. Einmal freilich erwachte in ihm der Instinkt. Als er eine Katze sah, kam er regelrecht zu sich und jagte ihr nach. Wir waren baff. In der Nähe gab es eine zerbombte Tierhandlung, und da fanden wir Hundefutter. Dem Hund ging es nun deutlich besser, und später sollen ihn sogar freiwillige Helfer seinem Herrchen zurückgebracht haben.

Als wir in unseren Keller zurückkehrten, waren unsere Sachen geklaut, alle Taschen, das Laptop. Nur zwei Mäntel und ein Paar Stöckelschuhe waren noch da. Keine Nachbarn mehr, im Keller lauter Fremde… Die Wohnung zertrümmert, einfach schrecklich anzusehen. Wie ist so etwas möglich? In einem normalen Land! So etwas muss man doch stoppen! Einfach alles zerstört. Die Stadt – dem Erdboden gleichgemacht. Unsere Wohnung ausgebrannt. Ich konnte nicht mehr hoch in die Wohnung, nur der Junge und mein Mann taten sich das an. Wir hatten dort mehr als 20 Jahre gelebt, und dann plötzlich alles verloren. Wir hatten die Wohnung lange gesucht und inzwischen abbezahlt, sie war unsere Heimat. Nur die Kühlschranktür war übrig, war nicht völlig verbrannt. Die Nachbarn waren schon weg, in der Wohnung hausten jetzt Fremde… Im Mamas Keller hatte jeder von uns zweiundzwanzig Überlebenden seine Aufgaben: Feuer, Essen, Freundschaft, Unterstützung, ein achtmonatiges Kind, das zu versorgen war. In anderen Häusern gab es diese Solidarität nicht.

Doch zurück zum Auto: Meine beiden Männer nahmen beim nächsten Versuch noch zwei Jungs mit, um die Tür wegzuheben und das Auto zu holen. Aber es war schon weg, die Garage lag ja auf der russischen Seite, wo inzwischen nicht mehr geschossen wurde. Also gingen die beiden zu Verwandten, als ihnen plötzlich unser Auto mit dem „Z“, dem russischen Zeichen für den Sieg entgegenkam. Mein Mann lief im Schock dem Auto nach. Doch natürlich vergeblich. Auf Nimmerwiedersehen! Doch die Verwandten waren am Leben und schon weg.

Meine Mutter feierte ihr Jubiläum im Keller. Wie sie das alles aushielt, verstehe ich bis heute nicht. Sie machte sogar noch den anderen Mut. Jetzt hatten wir also auch kein Auto mehr. Aber wir waren am Leben! Wir hatten eine ganze Armee von Schutzengeln – hier im Epizentrum des Beschusses, wo wir so oft hätten umkommen können ohne Verbindung zur Außenwelt. Unsere Straße: Auf der einen Seite die ukrainischen Streitkräfte, auf der anderen die der „Volksrepublik Donezk“. Unseren Stadtteil hatten die Russen unterdessen eingenommen, und wir konnten nun rausfahren. Jetzt erst fand sich auch ein Fahrer für uns. In unserem Hof standen zerlegte Autos herum, und immer wieder holte sich jemand Ersatzteile. Einer von den Jungs nannte uns jemanden als Fahrer. Freilich für einen stattlichen Preis.

Um 4 Uhr fuhren wir los, bevor die Posten ihre Stellungen bezogen, bevor die Überprüfungen, Ausfilterung genannt, begannen. Die dauerten nämlich bis zu einem Monat und länger, sie checken anhand der Datenbanken, Handyauswertung, Verbindungen zu Militärs und so Sachen. Viele gerieten dabei in Gefangenschaft, die gar nichts mit der Armee zu tun hatten, etwa Freiwillige, die anderen geholfen hatten, rauszukommen. Eine junge Frau, eine Rettungsassistentin, wurde festgehalten, weil man ihr vorhielt, sie sei Scharfschützin.

Wir saßen zu siebt im Auto, hatten einander auf dem Schoß, wir drei, meine Mutter und Schwester sowie ein Junge aus dem Keller und der Fahrer plus das ganze Gepäck: Hauptsache raus. Am 17. April sollte die Stadt geschlossen werden. Es war also Eile geboten. Wir hatten nun endlich wieder Netz und konnten die Verwandten und Freunde wissen lassen, dass wir am Leben waren. Zwei Monate lang wusste nämlich niemand, wie es um uns stand.

Wir dachten, vor 6 Uhr kämen wir noch durch. Wir mussten bis zum Dorf Bilosarajska Kosa durchkommen, von wo aus wir ohne Filzen weiterfahren könnten, denn den Persilschein brauchte man nur in Mariupol. Aber die Kontrollposten waren schon besetzt, und wir gerieten an eine russische Kontrolle. Man stellte alles auf den Kopf, buchstäblich alles, alle Taschen, das ganze Auto. Man will uns nicht durchlassen, wir haben keinen Persilschein. Wir waren mit zwei Fahrzeugen unterwegs, im zweiten Auto saß ein Behinderter. Eine junge Frau kniete sich nieder und bettelte, durchgelassen zu werden: „Ihr seht doch, das ist ein alter Mann, behindert…“ Doch der junge Posten, keine 20 Jahre alt, war so grausam. Wir kamen dann später an Posten von der „Volksrepublik Donezk“, die sich anständig verhielten, Leute wie wir, sie wurden ja auch oft gezwungen. Aber jener! Dessen Gesicht vergesse ich nie. Wir mussten zurück in eines der Ausfilterungslager, das nächstgelegene war in Wolodarsk, aber da gab es riesige Schlagen, die Leute übernachteten einfach auf Matten in einer Schule. Mama fühlte sich miserabel, ebenso der alte Mann. Aber unsere Fahrer waren erstaunliche Jungs. Sie entschieden sich für einen Schleichweg über die Felder und Sümpfe. Wir mussten aussteigen und ließen nur meine Mutter und den Mann im Auto, während wir zu Fuß ca. 15 km über Felder gingen, damit die Autos nicht steckenblieben. Und so kamen wir nach Bilosarajska Kosa. Dort fanden wir wieder Leute, die uns bis Berdjansk brachten. Unser Ziel war die Region Saporischschja.

Unseren Sohn versteckten wir natürlich. An jeder Kontrollstelle filzten sie ihn, er ist ja im wehrfähigen Alter. Einmal gerieten wir an einen Posten der „Volksrepublik Donezk“, einen feinen Kerl, der zu ihm sagte: „Junge, streck den Kopf nicht heraus!“ Mehr als eine Woche saß er im Keller.

In Berdjansk stand an jeder Ecke ein Posten, aber es gab Strom, derart grundlegende zivilisatorische Dinge hatten wir schon vergessen. Wir hatten zwei Monate in Kellern hinter uns. Wir hatten praktisch kein Geld mehr, wir waren moralisch am Ende. Hier trennten sich dann unsere Wege. Mein Mann stammt von der Krim, wir wollten dorthin fahren. Meine Schwester wollte keinesfalls in die Russische Föderation gehen. Und sie beschloss, mit der Mutter nach Dnipro zu fahren. Sie blieben zwei Wochen in Berdjansk, weil sie nicht nach Dnipro weiterfahren konnten, auf der einzigen Straße dorthin ließen die Russen nämlich niemanden durch. Erst als es Mama und einer weiteren älteren Frau in der Autoschlange schlecht wurde, riefen sie den Rettungswagen, erbarmten sich und lieben beide durch.

Wir fuhren über Melitopol auf der Krim. Gott sei Dank sind die Schwester meines Mannes und ihr Mann anständige Leute, sie hatten schon genug von Russland gesehen und begriffen, was Sache war. Sie unterstützten uns auf sagenhafte Weise. Die Freunde und Klassenkameraden meines Mannes sammelten Sachen und Geld. Mein Sohn wollte dort aber nicht bleiben, er hielt es moralisch nicht aus. Schockierend war die Grausamkeit. Dies war früher ukrainisches Gebiet. Aber alle Autos trugen ein „Z“-Zeichen, sogar die Krankenwagen. Ich arbeitete eine Zeitlang. Alle redeten über den Krieg, und sehr viele Menschen unterstützten den Krieg. Ich hörte alle ihre Reden, mein Kopf rauchte davon. Ich hatte Angst, ich würde mich nicht zurückhalten können und etwas sagen oder… Und bald konnte ich es einfach nicht mehr ertragen. Uns wurde klar, dass wir auch dort nicht bleiben konnten, und es fiel uns schwer, zu gehen. Mein Mann und ich fanden dann eine Website, auf der wir erfuhren, wie man aus Russland ausreisen kann. Wir nahmen Kontakt zu Freiwilligen auf, die selbst Russen waren, aber den Krieg ablehnten.

Meinem Sohn gelang es nach Wladikawkas zu gelangen. Er wollte mit dem Bus nach Tiflis, aber eine Lawine hielt ihn drei Tage lang auf. Er wusste nicht, wo die Nacht verbringen. Georgier sagten ihm, er solle ein Taxi nehmen und dann jemanden organisieren, der ihn über die Grenze bringen könnte. Er fuhr dorthin und hatte großes Glück, der Fahrer entschied alles selbst, fand einen weiteren Mann und dessen Mutter, ebenfalls aus Mariupol, und so fuhren sie zur Grenze. Sie mussten acht Stunden lang warten. Die Russen befragten ihn zu seiner Haltung zum „militärischen Sondereinsatz“ in der Ukraine… Sobald sie „Mariupol“ hörten, schöpften sie sofort Verdacht, Stichwort „Asow“. Sie nahmen ihm das Handy weg und überprüften alles. Sie dachten, der Fahrer sei schon weiter und warfen die Sachen weg. Aber mit dem Fahrer hatte er Glück, er wartete auf seine Fahrgäste. Als die Beamten an der georgischen Grenze „Mariupol“ hörten, stempelten sie den Pass und wünschten eine gute Reise. Nun dachte mein Sohn, alles sei ausgestanden, jetzt geht’s weiter, aber da war wieder eine Lawine. Es folgte eine weitere Nacht im Auto, es war kalt, und erst dann ging es nach Tiflis. Ein Freund meines Mannes half ihm dort, zwei Tage später gab es einen Flug nach Berlin, von wo er nach Bayern, nach Nürnberg, kam, wo ihn schon ein Freund erwartete. Am 12. Mai traf mein Sohn in Nürnberg ein und übernachtete in Zirndorf. In Bayern gab es keine Plätze mehr, und er sollte nach Thüringen geschickt werden. Über Bekannte nahm er Kontakt zu einer Ehrenamtlichen auf, um zu sehen, ob ein Platz in Erlangen frei sei. Es gab eine letzte Hoffnung, dass eine Privatperson ihn aufnehmen und registrieren würde, und so fand die Möglichkeit, in Erlangen zu bleiben.

Wir hingegen blieben noch bis zum 17. Juli auf der Krim. Aber ich hielt es nicht mehr länger aus: ohne den Jungen und die Mama und Schwester in Dnipro. Uns halfen dann tatsächlich Freiwillige, sie übernahmen sogar die Reisekosten. Wir fuhren mit dem Bus bis Rostow am Don und von da mit dem Zug weiter nach Moskau. Dort setzten uns die Freiwilligen in den Bus nach Riga, wo wir vier Tage blieben. Die Letten halfen großartig, alles war für uns eingerichtet, ein ganzes Flüchtlingszentrum. Eine Fähre brachte uns nach Travemünde, und von Hamburg kamen wir dann hierher. In Zirndorf schickte man uns nach Fürth, aber da ging’s uns dann gar nicht gut: Unterbringung in einem Handelszentrum, schlechtes Essen, nur einmal am Tag eine warme Mahlzeit. Ich hatte Darmbeschwerden, vor dem Krieg schon war ich an Covid erkrankt, und ich konnte nicht essen. Trotzdem danke allen, die dort halfen. Moralisch war es dort halt schwierig. Die Türen lassen sich nicht schließen, man konnte nicht einmal seine Sachen dort lassen, es wurde viel geklaut. Und da sprach mein Sohn mit dem Hausherrn. Jetzt leben wir bei ihm in einem kleinen Zimmer, aber wir sind zusammen.

Ich weiß nicht, ob ich jemals nach Mariupol zurückkehren kann. Es geht hier nicht nur um den Krieg, sondern vielmehr um eine Kluft zwischen den Menschen. Man erzählte uns später über den Leichengeruch des zerbombten Theaters in der Nase. Sie haben die Stelle jetzt mit Beton ausgegossen. Wer nicht in Mariupol gewesen ist, wer es nicht erlebt hat, versteht das nicht. Sie fragen uns, warum wir nicht gegangen seien. Sie verstehen einfach nicht, dass es einfach nicht möglich war, es war die Hölle dort. Stille herrschte immer gerade einmal drei Minuten lang, und danach fielen wieder Bomben. Wie viele Asow-Kämpfer mag es in der Stadt gegeben haben, um so viele Bomben auf Mariupol abzuwerfen? Alles wurde einfach zerstört. Wenn ich mir die zurückgebliebenen Menschen ansehe, verstehe ich nicht, ob sie Angst haben oder den Verstand verloren haben wegen dem, sie dort tun.

Und schließlich: Wie all das je wieder aufbauen? Meine Schwiegermutter meint, die Russen würden das schon erledigen. Ich habe die Russen anders erlebt und bin froh, jetzt hier in Deutschland Schutz gefunden zu haben. Wer wird mir all das zurückgeben: die Wohnung, das Auto, die Arbeit, ganz zu schweigen von den Bildern, den Kinderbildern meines Sohnes, die mir so teuer waren?

Aufgezeichnet am 7. Oktober 2022

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