Michajlo & Olena – Slowjansk

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Wenn man sich unser Leben anschaut, sind wir stinknormale Ukrainer: Ich arbeitete viele Jahre an einer Hochschule in Slowjansk, meine Frau war Betriebswirtschaftlerin. Wie die meisten Menschen im Donbass sprechen wir weder reines Ukrainisch noch reines Russisch, sondern „Surschik“, eine Mischung aus beiden Sprachen. Und wir erlebten noch nie irgendwelche Konflikte oder Missverständnisse zwischen Völkergruppen oder Nationen. Und davon gibt es in unserer Region jede Menge – von Tataren bis zu Griechen. Wir hätten uns also nie vorstellen können, dass es zu dem kommen könnte, was jetzt passiert, und was wir, wie viele unserer Landsleute, ertragen mussten. Am meisten schmerzt die Kränkung, dass dieser Krieg von Russland, dem Land unserer einst „brüderlichen“ Nation, unter dem Vorwand der „Befreiung der russischsprachigen Bevölkerung von der Unterdrückung durch Nationalisten“ begonnen wurde. Dieser Krieg zwang uns, wie viele Ukrainer, unser Zuhause zu verlassen…

Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim diente als Beginn des Kriegsgeschehens im Donbass. 

Der 12. April 2014 war ein gewöhnlicher Samstag für die Bewohner von Slowjansk. Nichts deutete auf Unruhen hin. Plötzlich wurde bekannt, eine bewaffnete Gruppe sei in unsere Stadt eingedrungen und habe die Stadtpolizei, die Räumlichkeiten des Ukrainischen Geheimdienstes und einige Zeit später auch das Gebäude des Exekutivkomitees in ihre Gewalt gebracht. Wir verstehen immer noch nicht, wie das alles passieren konnte. Unsere Bürgermeisterin, die einzige weibliche Führungspersönlichkeit der Stadt, wird immer noch des Landesverrats verdächtigt, aber ihre Schuld ist bisher nicht bewiesen. Es war ungewöhnlich und beunruhigend zu sehen, wie in unserem ruhigen und friedlichen Ferienort Barrikaden und Straßensperren errichtet wurden und bewaffnete Männer in Tarnuniformen, als Milizionäre bezeichnet, auf den Straßen auftauchten.

Wie sich später herausstellte, wurden sie von Igor Girkin alias Strelkow angeführt, einem Mitglied der russischen Geheimdienste, der an der Annexion der Krim beteiligt war. Um Girkins bewaffnete Truppe in Schach zu halten, umzingelte die ukrainische Armee unsere Stadt, und es kam zu schweren Kämpfen zwischen den gegnerischen Seiten. Es war beängstigend und erschreckend, die Explosionen zu hören, aber am schlimmsten war es, wenn es „zufällige“ Opfer unter der Zivilbevölkerung gab. Immer mehr Sirenen waren in der Stadt zu hören. Einige Gebäude, insbesondere Wohnhäuser, wurden teilweise zerstört. Die Bevölkerung der Stadt begann, ihre Häuser zu verlassen und sich aus Sicherheitsgründen an ruhigere Orte zu begeben.

Am 30. Mai ist unsere Familie in das Dorf Bogoroditschnoje gefahren, das 20 Kilometer von unserer Stadt entfernt ist. Für uns, die Bewohner von Slowjansk, begann der Krieg mit Russland also nicht am 24. Februar 2022, sondern vor acht Jahren – am 12. April 2014.

Es ist uns immer noch ein Rätsel, warum Slowjansk die erste Stadt war, die von den Milizen eingenommen wurde. Wir hatten keine militärischen Einrichtungen in der Stadt, nichts, was sie zu einem attraktiven Ziel für die russischen Besatzer hätte machen können. Slowjansk war eine friedliche und ruhige Stadt, bekannt für ihre Heilbäder und Salzseen mit Heilschlamm sowie für ihre Töpfereien und Keramikproduktion.

Wir sind keine Fachleute auf dem Gebiet der militärischen Analyse, aber wir können einfach Annahmen machen und drei Punkte anführen, die vielleicht dabei eine Rolle gespielt haben könnten:
Erstens heißt die Stadt Slowjansk (im Russischen Slawjansk), was wie ein Symbol für alles „Slawische“ klingt.
Zweitens haben wir hier einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt, nämlich der Charkow-Rostow-Strecke, die in der Nähe unserer Stadt verläuft.
Und drittens beginnt die Leitung, von der die gesamte Region Donezk ihr Trinkwasser bezieht, in Slowjansk.

Und so fuhren wir also nach Bogoroditschnoje, ein Dorf, ganz in der Nähe der wunderschönen Stadt Swjatohirsk. Dieser malerische Ort wird zu Recht „Donezker Schweiz“ genannt. Die Stadt ist nicht nur für ihre herrliche Natur und den majestätischen Fluss Siwerskyj Donez bekannt, sondern auch für ihre größte Sehenswürdigkeit, die Swjatohirsker Lawra, ein Kloster, zu dem jedes Jahr Tausende von Pilgern kommen, um diesen heiligen Ort zu besuchen und die Ikone der Gottesmutter von Swjatohirsk anzubeten. Glauben Sie mir, das Gelände der Lawra strahlt eine besondere Aura aus. Wenn man einmal dort war, möchte man immer wieder zurückkommen. Dies ist ein wahrhaft heiliger Ort.

Während unserer Zeit in Bogoroditschnoje gingen wir oft nach Swjatohirsk. Im Dorf selbst und in Swjatohirsk war es ruhig und friedlich, aber wir hörten ständig Artilleriesalven. Wir surften dauernd im Internet, um Nachrichten über die Kämpfe der ukrainischen Armee zu verfolgen, die versuchte, unser Slowjansk zu befreien.

Am Morgen des 5. Juni 2014 erreichte uns die gute Nachricht, Girkins Truppen hätten in der Nacht zuvor unsere Stadt verlassen und den Rückzug in Richtung Donezk angetreten. Wir dachten, nun sei alles vorbei, aber es verhielt sich wie Schaum auf dem Wasser, der sich mit der Zeit auflöst. Und jetzt wird uns so richtig klar, dass dies erst der Anfang des Grauens war, in dem das ukrainische Volk jetzt lebt.

Am 15. Juli 2014 kehrten wir in unsere Heimatstadt zurück. Unser Leben begann sich zu normalisieren. Die Menschen in unserer Stadt hatten fast alle zerstörten Gebäude wiederaufgebaut, die Geschäfte, Apotheken, Friseurläden, Banken und andere Infrastruktureinrichtungen, die eine Zeitlang geschlossen hatten, wurden wiedereröffnet. Kurzum, das Leben ging weiter, und wir hofften, dass sich so etwas nie wiederholen würde. Wir arbeiteten wieder. In den letzten acht Jahren waren wir zweimal in der Westukraine, wo wir ausgezeichnete und freundschaftliche Beziehungen zu den Einheimischen pflegten. Ein Sprachkonflikt stand gar nicht zur Debatte. Diese Reisen werden uns noch lange in bester Erinnerung bleiben.

Wir besuchten unsere Kinder auch mehrmals in Deutschland: in Erlangen und Stuttgart. Insgesamt hatten wir uns wie alle normalen Ukrainer auf ein friedliches und glückliches Leben eingestellt.

Und da begann plötzlich, am 24. Februar 2022, die russische Armee mit der Bombardierung ukrainischer Städte. Wir erfuhren davon aus den Medien und durch Anrufe von Freunden, Bekannten und Verwandten in anderen Städten. In den ersten Tagen blieb es in Slowjansk relativ ruhig, aber tief in den Menschen herrschte Unruhe. Könnte es wieder losgehen? In den folgenden Tagen waren in der Stadt oft Sirenen zu hören. Es war sehr beängstigend, als Militärmaschinen im Tiefflug dröhnend über die Stadt flogen. Die Regale in den Geschäften waren leer, und viele Geschäfte, Apotheken und Banken blieben geschlossen. Es war gefährlich, sich in der Stadt aufzuhalten. Der Bürgermeister der Stadt forderte die Einwohner auf, die Stadt nach Möglichkeit zu verlassen. Auf Initiative des Bürgermeisteramtes wurden kostenlose Evakuierungsbusse und -züge an sichere Orte organisiert. Es war sehr herzerwärmend zu hören, dass man speziell ausgerüstete Waggons für Behinderte und in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen einsetzte, um sie zu medizinischen Einrichtungen in „ruhigeren“ Städten zu bringen, um dort die notwendige medizinische Versorgung zu erhalten. Währenddessen heulten die Sirenen immer häufiger. Uns läuft bis heute ein Schauer über den Rücken, wenn Autos mit Sirenen vorbeirauschen.

Das russische Militär beschoss Flugplätze und militärische Einrichtungen in den Nachbarstädten. Aber allen war klar, dass es auch Häuser und andere Objekte der Infrastruktur treffen würde.

Also beschloss unsere Familie, für eine Weile an einen sichereren Ort zu ziehen. Ende März fuhren wir in die Region Dnipropetrowsk. Wir wohnten bei einem ehemaligen Klassenkameraden. Dort wollten wir bleiben, bis die Kämpfe vorbei waren. Aber meine Söhne bestanden darauf, zu ihnen nach Deutschland zu kommen. Nachdem wir uns also mit einem Fahrer geeinigt hatten, machten wir uns auf den Weg in Richtung Grenze. Unterwegs machten wir uns große Sorgen um unsere 85jährige Großmutter, die uns begleitete, denn uns war klar, dass es für sie nicht leicht sein würde, die Reise zu überstehen. Aber Gott sei Dank hat unsere Oma den „Härtetest“ gut überstanden. Wir erreichten die Grenze um 2.30 Uhr. Zu unserer Überraschung kamen wir schnell durch den ukrainischen und polnischen Zoll. Obwohl Großmutter nur einen ukrainischen Personalausweis hatte, gab es keine Probleme beim Grenzübertritt. Auf der polnischen Seite waren wir gerührt von der Aufmerksamkeit und Fürsorge, die uns polnische Freiwillige entgegenbrachten. Sie boten uns heiße Suppe und Tee an, hielten uns in einem Zelt mit Heizung warm und gaben uns eine SIM-Karte. Wir waren zu Tränen gerührt über diese Aufmerksamkeit. Und dieses gute und einfühlsame Entgegenkommen begleitete uns während unseres ganzen Wegs durch Polen. Ein herzliches Dankeschön an diese Menschen!

Unser Sohn holte uns aus Polen ab. Am 11. April kamen wir in Erlangen an. Diese Stadt ist von der Einwohnerzahl her etwa so groß wie unser Slowjansk, genauso grün, ruhig und gemütlich. Vor ein paar Jahren, als wir hier schon einmal wohnten, waren wir angenehm überrascht, ein Eichhörnchen und dann einen Hasen auf dem Rasen im Hof eines Hochhauses zu sehen. Das ist so niedlich!

Wir verliebten uns schon damals so richtig in diese schöne Stadt. Und hier leben wir jetzt. Am Anfang teilten wir uns eine Wohnung mit der Familie unseres Sohnes. Innerhalb von zwei Monaten gelang es ihm, eine Zweizimmerwohnung für uns zu finden. Und da sind wir dann zu dritt eingezogen. Wir fühlen uns hier wohl und angekommen. Wir sind dem Rathaus und den Menschen hier sehr dankbar für ihre große Hilfe und ihre einfühlsame und freundliche Einstellung uns gegenüber. Wir werden ihre Fürsorge und Aufmerksamkeit nie vergessen. Nochmals vielen Dank an diese Menschen. Wir haben schon vor langer Zeit gelernt, wie wenig materielle Werte zählen. Die Hauptsache ist, dass wir und unsere Lieben am Leben sind.

Wir wünschen uns, dass der Krieg in der Ukraine endlich aufhört und wir nach Hause zurückkehren können. Wir vermissen Slowjansk sehr. Immerhin ist dort unsere Heimat, unser Zuhause…

Aufgezeichnet am 18. November 2022

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