Maryna – Irpin

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Meine Mutter lebt noch in Irpen, aber ich kann nicht dorthin zurück, ich schaffe das psychisch nicht.

Am 10. Februar hatte ich für eine Operation Urlaub genommen, natürlich ohne jede Ahnung von Krieg, der ja dann am 24. Februar ausbrach, an dem Tag, als mein Verband gewechselt werden sollte. Ich wachte von einem Knall auf, der wie ein Salut klang. Wir wohnten in einem ganz alten Haus, alles zitterte und bebte, die Fenster schepperten. Ich griff zum Handy, und da erfuhr ich, daß wir von allen Seiten beschossen werden. Hinter einem Steinbruch liegt Butscha, dahinter der Flughafen Gostomel. Die Kinder schliefen noch, ich war wie in einem Schockzustand. Die Mutter fragte, was passiert sei: Krieg. Wir wußten schon, wie wir die Evakuierungskoffer packen sollte, aber wir hatten ja alle darüber gelacht: Das sei doch nicht denkbar in Europa, im 21. Jahrhundert. Undenkbar, unmöglich! 

Ich mußte dann zum Arzt, weckte die Jungs und sagte ihnen, sie sollten im Fall der Fälle zur Oma, sie wohnte ja über der Straße, ich dachte, dort wird es viel sicherer als in unserem Haus. Die Kinder liefen dann tatsächlich zur Oma und blieben auch dort. Ständig waren Raketen unterwegs. Schrecklich. Olja, meine Tante, lebt auf Mallorca. Als ich mit sie anrief, riet sie mir, sofort zu fliehen.

Im Krankenhaus angekommen, um den Verband wechseln zu lassen, war dort keiner mehr da. In diesen Moment begann der Beschuss von Butscha. Den Verband mußte ich mir dann selbst abnehmen, der Arzt erklärt mir am Handy, wie das zu machen sei… Und schon gab es in den Läden nichts mehr. Am 26. Februar brach das Netz zusammen. Wir lebten nur 30 Gehminuten vom Zentrum. An dem Tag kam auch ein Zehnjähriger ums Leben. Von da an durften die Jungs nicht mehr auf die Straße. Die Läden wurden immer leerer, alles wurde teuer, wir wurden gewarnt, daß es in Irpen Saboteure gebe, Brücken wurden zerstört, die „Giraffe“ (ein Einkaufszentrum) liegt an einer Brücke hinüber zu Butscha mit vielen Neubauten, wo hauptsächlich Binnenflüchtlinge aus Donezk und Luhansk lebten. 

Am 27. Februar ging ich mit der Mutter auf den Markt, und wir sahen diese Saboteure. Ein großer, hagerer Mann fragte in reinstem Russisch, wie man nach Kiew komme, und bat um etwas zu Essen, und dann war da noch ein Paar, das uns begleiteten, weil es angeblich für uns beide zu gefährlich war. 

Meine Mama arbeitete mit Armeeangehörigen, und sie konnte die Geschosse nach dem Klang unterschieden. Ganz Irpen lag unter Feuer, alle Wohngebiete. Die Russen rückten dann am 28./29. Februar von Butscha aus an. Gleichzeitig verstärken sie noch die Bombardierung. Unsere Streitkräfte hatten die Brücken gesprengt, um den Vormarsch zu behindern, aber durch den Wald schafften es dann doch zwei Panzer, wie wir im TV gesehen haben. Ein Mann wurde in seinem Auto von einem Panzer überrollt. Wie durch ein Wunder überlebte, das Auto hatte Totalschaden. Als die erste Fliegerbombe fiel, am 2. März, erschütterte der Einschlag das ganze Haus. Seither können wir keine Flugzeuge mehr hören. Der jüngere Sohn baute sich im Korridor eine Lagerstatt, wo er sich geschützt fühlte, und da blieb er zusammen mit dem Hund, der überhaupt nicht mehr Gassi gehen wollte. 

Jetzt gab es praktisch nichts mehr in den Ländern. Die Schwester meines ehemaligen Mannes lebte in Butscha und rief an, obwohl ich mit ihr schon länger keinen Kontakt mehr hatte, und sie riet zur Flucht. Wir hörten, daß jetzt gezielt Leute erschossen wurden. Nicht mehr rausgehen! So lautete die Devise. Aber ich wollte noch nicht weg, meinte, noch hier bleiben zu müssen. Immerhin hatten wir Licht, Heizung und Lebensmittel für noch zwei Wochen. Aber am 3./4. März kamen die Flieger ständig, ab 4 Uhr im Stundentakt. Die Bomben gingen auf Wohnhäuser nieder. Jetzt waren die Läden endgültig leer. Beim Einkaufen konnte man die Geschosse im Anflug sehen, manche warfen sich zu Boden, andere blieben stehen… Irgendwann da kam der Entschluß, doch zu fliehen. Den Ausschlag gab wohl, als am 4. März die Heizung ausfiel und schon Tags zuvor der Strom, vor allem aber entschied ich mich, als wir auf dem Bahnhof jede Menge Leute sahen, darunter eine Freundin, mit der ich immer in die Kirche ging. Sie erzählte, man habe in der Nähe Sprengfallen gefunden. Dann kamen wir in einen Laden, wo es nicht einmal mehr Brot gab. Da war klar, wir würden fliehen. Mein älterer Junge stand in der Schlage in der Apotheke, aber da gab es auch nichts mehr. Die Leute bettelten regelrecht um Tabletten. 

Und wieder folgte ein schrecklicher Luftangriff, aber es gab doch keine Luftschutzkeller. Die Behörden riefen dazu auf, die Stadt zu verlassen. Alles bebte und zitterte, so schlimm hatte ich es noch nie erlebt. Im Laden bekam meine Mutter noch das letzte Brot, der Rückweg führte über den Eisenbahnübergang. Als wir sahen, was da geschah, blieb meiner Mama das Herz stehen: Unser ganzer Stadtteil stand in Flammen, und wir hatten da noch unseren Hund, unsere Katze. Es war furchtbar! Ein Mann hielt neben uns an, wir hatten ja noch 20 Minuten zu gehen, der ältere Sohn fuhr mit dem Roller. Der Mann brachte uns mit dem Auto heim. Und so sahen wir alles im Fahren: Neben dem Einkaufszentrum waren vier Häuser völlig zerstört, es brannte, keine Feuerwehr da. Gegen die anrückenden Russen errichteten unsere Leute Straßensperren und wollten alles in Brand stecken. Um die Panzer zu täuschen zündeten sie Reifen an. Und dank dem Qualm kamen dann auch tatsächlich eine Weile keine Angriffe mehr aus der Luft.

Am 4. März erhielt ich eine SMS von meinem Ex, der in Ägypten Urlaub machte. Er schrieb, um 10 Uhr gebe es einen Evakuierungszug. Wir packten alles, was wir zu brauchen glaubten, einiges ließen wir bei Mama. Und wieder kam ein Flieger, wieder fielen Bomben. Am 5. März gingen dann immer mehr Leute zum Bahnhof, mehr, immer mehr… Und da flogen wieder Raketen, unser Hund riß sich vor Schreck los, überall Vandalismus, Plünderungen, alle Fenster zersprungen. Doch dank unserem Bürgermeister gab es in Irpen – im Unterschied zu Butscha – Gegenwehr. Butscha hatte man aufgegeben, Irpen wehrte sich. 

Am Bahnsteig herrschte unvorstellbares Gedränge, hauptsächlich Frauen mit Kindern. Und in diese Menge hinein steuerte ein Flieger und feuerte auf das Gleis. Wir sahen über dem ganzen Himmel Raketen, es hätte auch uns treffen können – wie in Kramatorsk. Der Bürgermeister erklärte nach dem Angriff, das Gleis sei zerstört, man werden uns mit Bussen zu einem anderen Bahnhof bringen. Dabei wollte ich schon wieder heim, zur Mutter, doch die wollte ja dableiben (wegen der Katze, dem Chinchilla und der zwei Papageien) und bestand darauf: Du mußt die Kinder in Sicherheit bringen! 

Wir hatten drei Tüten mit Essen dabei – und den Hund. Da kein Bus kam, liefen wir zum anderen Bahnhof, doch dann hielt ein Kleinbus, der uns auf dem Vordersitz mitnahm. Wir verabschiedeten uns von meiner Mutter, herzzerreißend.  Aber was machen? 100 Meter vor der zerstörten Brücke hielt der Bus an, aber der Fahrer ließ uns nicht aussteigen, weil wir beschossen würden, und so fuhr er weiter. Schüsse fielen von allen Seiten. Der Bus fährt weiter, wir beten, bleiben im Konvoi mit unzähligen anderen Autos. Später erst sah ich, wie die Russen mit den Panzern wahllos in die Häuser schossen. Wir fuhren weiter. Unterwegs schrieb mein Ex, seine Firma könne uns in Uschhorod unterbringen. Wir fuhren weiter. Der Fahrer wußte selbst nicht, wohin, Hauptsache raus aus der Region Kiew. Eigentlich hätte er Medikamente für Soldaten transportieren sollen, doch nun saßen 15 Leute in dem Kleinbus, darunter ein Säugling. Weiterfahren, fahren, bis die Kämpfe aufhörten, aber überall brannten noch Autos. Der Fahrer kam aus der Westukraine, hatte sich erst eine Wohnung in Irpin gekauft, aber er wollte auch nur noch raus. Am gefährlichsten sei es, wie er meinte, über die Felder zu fahren, weil da die Panzer stehen und auf alles schießen, was sich bewegt. 

Um 2 Uhr nachts am 6. März kamen wir in Winnyzja an. Alles war überfüllt. Ein Polizist brachte uns in die jüdische Schule. Ich brauchte wenigsten eine Nacht Schlaf. Wir bekamen dort etwas zu essen, es war ruhig, keine Schüsse, ich wollte schon dortbleiben, aber gerade an dem Tag, am 6. März, schoß wieder eine Rakete über uns hinweg, in Richtung Flughafen. Meine Cousine lebte schon in Erlangen und hatte mir geraten, zu ihr zu kommen, aber ich wollte nach Uschhorod, ich wußte, da würden wir gut leben können, zumindest vorerst. Doch nun herrschte wieder Panik, und den Hund durfte man nur im Zug mitnehmen. Aber niemand wußte, wann welche Züge kommen, ganz nach dem Motto: Wenn einer kommt, ist es gut, wenn nicht, auch. Wir saßen in der Falle, so würden wir nicht nach Uschhorod kommen. Von der Schule bis zum Bahnhof waren es zehn Minuten mit dem Auto, aber es gab kein Taxi. Da half uns das Wachpersonal mit dem Transfer, aber der erste Zug war schon früh morgens weg. 

Wir stiegen dann in den nächsten ein, und erst da begriff ich, daß wir nach Deutschland müssen. Denn im Zug war es einfach schrecklich, kein Platz frei, alle Abteile mit zehn bis fünfzehn Leuten voll. Wir saßen im Gang, der Kleine würde das nicht lange aushalten… Wir wollten schon wieder aussteigen, aber von beiden Seiten drängten immer neue Leute nach. Wir schafften es dann doch aus dem Zug und fragten nach der nächsten Verbindung in Richtung Lemberg. Am frühen Nachmittag stiegen wir dann tatsächlich in den Zug nach Lemberg ein, wo wir zum ersten Mal seit Beginn der Flucht richtig essen konnte, sogar der Hund wurde satt. Aber die Stadt war überfüllt, nichts mehr frei. Lemberg gefällt mir sehr, ich hatte dort viele Bekannte, aber niemand von ihnen konnte uns aufnehmen. Also suchten wir einen Platz in einem Bus oder Zug nach Polen. Für die Gratis-Busse mußte man drei Tage, für die Gratis-Züge sogar fünf Tage anstehen, in mehreren Reihen. Ich suchte dann einen Bus gegen Bezahlung und fand auch gleich einen. Aber wir mußten erst noch Geld abheben. Der erste Bankomat war schon leer, am zweiten stand ein Mann, und da wird plötzlich meine Karte blockiert. Es dauerte, bis ich an mein Geld kam.

Ich wollte eigentlich nicht mit dem Bus fahren, weil dem Kleinen davon schwindlig wird. Und wir brauchten auch eine Ausnahmegenehmigung für den Hund. An der Grenze standen wir dann zwölf Stunden, obwohl nichts weiter kontrolliert wurde, nur die Kinder registrierte man. In Polen gingen wir zum Bahnhof. Bekannte einer Freundin leben in Polen, und die fanden dann binnen einer Viertelstunde eine Unterkunft. Mir wurde geraten, Freifahrkarten nach Berlin zu nehmen, aber es gab schon keine mehr. Nur gegen Bares, dafür mit Sitzplatz. Die polnischen Freunde nahmen uns für zwei Tage auf, und dann stand da ein überfüllter IC, in den Gängen, vor den Toiletten Gedränge. Wir hatten ja Platzkarten, aber in unserem Abteil saß schon eine Familie, Mama, Oma, drei Kinder, die nach Frankreich wollten. Sie waren natürlich nicht sehr erfreut, uns Platz machen zu müssen. In Berlin blieben wir zwei Tage wieder bei Freunden von Freunden. 

Am 12 März trafen wir dann in Erlangen ein. Aber ich konnte nicht schlafen, weil ich nicht wußte, wie es der Mutter ging. Aus Facebook hatte ich erfahren, daß am 12. März eine Rakete mein Haus getroffen hatte, zwei Tage zuvor das Haus meiner Mutter… Wie geht es ihr? Ist sie überhaupt noch am Leben? Wurde sie evakuiert? 

Wie war ich erleichtert, nun zu erfahren, daß es der Mutter gut ging. Sie half einer Nachbarin mit ihrem kranken Vater und der gelähmten Mutter. Gekocht wurde auf offenem Feuer, aber sie war am Leben. Am 28. April dann die erste Verbindung zur Mutter. Ich hatte noch in der Nacht von ihr geträumt, und am andern Tag um 8 Uhr ruft sie an: „Marina, ich lebe…“ Endlich hatte sie wieder Strom, und sie erzählte, was alles in Irpen passierte. Sie half Freiwilligen, kochte Tee, machte belegte Brote, dank einer Bekannten blieb sie in Deckung, als Raketen in ihren Hauseingang einschlugen. Wenn sie nicht dort, bei der Bekannten, gewesen wäre, wäre sie jetzt tot. Sie versuchte sogar noch, den Brand einzudämmen. Dann ging sie in meine Wohnung. Im Haus lebt ein alter Mann, der morgens immer Kaffee trinkt und raucht, und Mama ging zu ihm. Und da knallte es wieder, nun gab es einen Volltreffer in ihre Küche… Wenn wir da gewesen wären, wären wir jetzt alle tot. 

Am 7. März verlegten die Russen überall Sprengfallen, viele Nachbarn kamen so um. Nun lagen also die Häuser von mir und der Patin und meiner Mutter in Schutt und Asche. Die Patin überlebte wie durch ein Wunder. Ganz Irpen war voller Leichen, viele wurden einfach so im Vorbeigehen erschossen. Man suchte über Viber, wer wo ist, wer noch lebt. Diese Märztage waren für Butscha und Irpen die schrecklichsten Tage. Auf Videos ist zu sehen, wie sich die Leute in den Häusern versteckten. Die Saboteure markierten die Häuser, die dann gezielt beschossen wurden. Unsere Schule bekam auch schwere Treffer ab. Nebenan liegt ein Lazarett, das sie wohl im Visier hatten. Offensichtlich hatten die Russen veraltete Karten. 

In Erlangen konnte ich erst nach drei Monaten richtig aufatmen und zu leben beginnen. Zuerst machte uns noch jedes Flugzeug Angst. Und trotz allem Guten, das wir hier erleben, möchte ich wieder heim. Nichts möchte ich mehr als wieder heim. Hier ist natürlich alles gut, die Jungs gehen zur Schule. Aber zu Hause sind wir nur in der Ukraine. Aber ich weiß natürlich, wie lang der Weg zurück sein kann. Und ich weiß auch, daß ich nicht mehr nach Irpen zurückkann. Zu schlimm sind die Erinnerungen.  Wenn nicht der Busfahrer uns mitgenommen hätte, wären wir immer an der zerstörten Brücke nicht weitergekommen und hätten zurückkehren müssen auf die Straße der Folter und des Todes, wo man sich am 7./8. März keine 100 Meter ohne Lebensgefahr bewegen konnte, wo so viele umkamen… Mein Stadtteil, Irpenskie Lipki, ist völlig ausgebrannt, ein einziges Haus blieb in unserer Straße heil, da kann ich nicht mehr hin. Ein Bekannter wurde verschleppt, niemand weiß, wie viele gleich erschossen wurden. Viele waren ja trotz der Evakuierung geblieben, und noch immer laufen Suchanfragen über die Sozialen Medien. Kein Unterschlupf half gegen die Kriegswalze der Russen. Dabei war es ja in Butscha noch schlimmer. Ich lebte früher dort, und eine Bekannte von mir versteckte sich dort mit ihren drei Kindern im Keller. Dabei hatte sie noch Glück. Als ein Russe beim Plündern die Kinder sah, ließ er sie in Ruhe. Am 9. März gelang ihr dann auch die Flucht; sie lebt heute in Israel. Es gäbe so viel zu erzählen… Ich möchte nach Browary. Das liegt nicht weit von Kiew und damit auch von Irpen. 

Aufgezeichnet am 7. Oktober 2022

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