Oksana – Ljubotyn

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Noch am Vorabend des Kriegsausbruches war ich mit den Kindern auf einem Fest in Charkiw. Alle waren sie feierlich gekleidet, niemand konnte sich vorstellen, was anderntags kommen würde. Mein ältester Sohn wollte dort bleiben, wir fuhren wieder nach Hause, nach Ljubotin, eine Eisenbahnerstadt, etwa 25 km von Charkiw entfernt. Am 24. Februar erhielt mein Mann am frühen Morgen einen Anruf seiner Schwester: „Es ist Krieg!“ Und gleich darauf, um 5.30 Uhr meldet sich unser Sohn. Ihn hatte eine Explosion geweckt. Und dann riss gleich die Leitung ab. Wir fuhren also sofort los, um den Sohn zu holen, aber die Straßen waren schon völlig verstopft.

Am Himmel flogen überall Raketen mit ihrem Leuchtschweif. Und zu den schlimmsten Erinnerungen gehören die ständigen Explosionen und Schüsse in der Nacht. Dennoch wollten wir ausharren. Wir hatten ja ein eigenes kleines Haus, in dem wir uns verbarrikadierten. Alles saßen wir im Schlafzimmer zusammen, da der Keller für den Luftschutz ohnehin ungeeignet war. Die Entscheidung zur Flucht fiel, als in unserem Gemüsegarten eine Streubombe einschlug und ein weiteres Geschoß das Nachbarhaus zerstörte. Die Kinder waren gar nicht mehr zu beruhigen, und ich hatte zu tun, mich selbst unter Kontrolle zu halten, nicht die Nerven zu verlieren. Überall im Haus Splitter, die sogar die beiden Türen durchdrangen, mit denen ich das Schlafzimmer gesichert hatte. Erst in der dritten Tür blieben sie dann auf der Höhe der Kinder stecken. Gar nicht auszudenken, wenn gerade jemand von uns im Korridor auf dem Weg zur Toilette gewesen wäre. Der Hund war draußen und wurde von vielen dieser kleinen Geschosse getroffen. Wie durch ein Wunder überlebte er. Sogar die gusseiserne Tonne im Garten war durchlöchert. Auf der Straße saßen die Leute alle mit den Händen über dem Kopf, überall herrschte Panik. Es wurde klar, dass es keinen Schutz mehr für uns gab; die Fenster zu verkleben und sich im Haus zu verkriechen, bot keine Sicherheit. Nichts wie weg! Das war der 9. März. 

Die Zeit zwischen Ausbruch des Krieges und unserer Flucht war unbeschreiblich. Unser Laden hatte keine Waren mehr, überall Schlangen, was es noch gab, kostete ein Heidengeld. Aber immerhin funktionierten die Sirenen und der Handyalarm – und die Russen marschierten bei uns nicht ein, wir wurden nicht „befreit“, sondern, Gott sei Dank, „nur“ mit Artillerie beschossen.

In unserer Stadt und in der ganzen Region Charkiw bleiben nur jene zurück, die entweder nicht mehr herauskommen oder aus den verschiedensten Gründen nicht herauswollen. Meine Tante blieb zum Beispiel in Charkiw. Sie meint, man brauche sie nirgends, und sie wolle lieber da sterben, wo sie all die Jahre gelebt habe. Aber meine Schwester floh ebenso wie ich und lebt heute in Bulgarien.

In dieser Zeit machten vor allem die Kinder schlimme Tage durch. Sie erwachten mit Gebeten auf den Lippen und schliefen mit Stoßgebeten ein. Ihre größte Sorge galt dabei immer mir und meinem Mann, der sich gleich bei Kriegsausbruch an die Front gemeldet hatte.

Bei der Flucht halfen uns Freiwillige, die uns in einen Bus setzten, der in aller Herrgottsfrühe in die Region Tscherkassy fuhr – ohne Zwischenfälle, ganz ruhig. Wenig später geriet diese Route unter feindlichen Beschuss; einige Menschen kamen um. Das hinterlässt mehr als nur Gänsehaut…

Drei Nächte blieben wir dort, bei guter Versorgung, bevor es weiter in die Region Chmelnyzkyj ging, wo auch ständig die Sirenen heulten. Man brachte uns zunächst in einem Priesterseminar unter, später in einem Dorf, wo wir etwa eine Woche bleiben konnten. Und nun geschah das große Wunder: Mein ältester Sohn hatte 2015 mit seinem Knabenchor einen Auftritt in der Partnerstadt Nürnberg. Er hielt die Kontakt aufrecht, und über diese Verbindung zu Musikern erhielten wir die Nachricht, man habe für uns bereits eine Wohnung gefunden und sogar möbliert, wir sollten auf schnellstem Weg nach Deutschland kommen.

Von Chmelnyzkyj brachten uns nun wieder Freiwillige per Bus bis zur polnischen Grenze, und am 23. März trafen wir in Deutschland ein. Bisher hatte ich jede Nacht vom Krieg geträumt, auch wenn es fernab der Front ruhiger wurde, auch noch in Polen, wo wir großartige empfangen wurden und auf Umwegen von Warschau nach Berlin fuhren. Erst hier träume ich nicht mehr vom Krieg, schlafe ich ruhig, finde ich mich wieder im Leben zurecht.

Mein vier Kinder, zwei Jungs, achtzehn und neun Jahre alt, und zwei Mädchen, fünfzehn und acht Jahre alt, gaben mir viel Kraft auf der Flucht. Sie waren mit der Flucht einverstanden, nur der älteste tat sich schwer mit dem Abschied vom Vater, der doch versprochen hatte, bei der Familie zu bleiben… Er hätte natürlich mitfahren können, ab drei Kindern ist das auch wehrpflichtigen Männern erlaubt, aber er entschied sich als Panzerfahrer für den Kampf um die Heimat. Er wurde übrigens später verwundet und berichtet vom Beschuss des Lazaretts, in dem er lag. Nach einem kurzen Fronturlaub im Juli bei uns hier in Erlangen kehrte er wieder zurück an den „Brandherd“ um Charkiw, um gegen die Raschisten zu kämpfen. Mittlerweile wurde übrigens auch die Schule bombardiert, auf die meine Kinder gingen. Was soll man da noch sagen?! Aber die Russen beschießen ja alles, sogar Autos von Flüchtlingen. Wann ist dieser Alptraum nur endlich vorbei?

Er bekam dann gesundheitliche Probleme, sein Blutzucker- und Hämoglobinwert fielen, er ist ja Diabetiker. Man brachte ihn also gleich ins Lazarett, das aber, wie er erzählte, beschossen wurde.

Als wir ankamen, holten uns die Gastgeber mit zwei Autos am Bahnhof ab. Sie hatten sogar Soljanka nach einem Rezept aus dem Internet gekocht, ausgerechnet die Lieblingssuppe meiner Kinder. In der Küche stand ausgerechnet die Spülmaschine, von der ich mein ganzes Leben geträumt hatte. Wir haben jetzt viel Kontakt zu Nachbar aus anderen Ländern – von Brasilien bis Indien –, die meinen Kindern immer wieder Spielsachen schenken. Nun hebt sich der Nebel, der in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch über unserem Leben hing und alles erstickte.

Wir fühlen uns hier so richtig wohl, gerade auch bei den Seniorennachmittagen in St. Heinrich. Uns gefällt da, wie alt und jung beisammensitzen, miteinander spielen und sprechen. Jetzt waren wir auch unlängst zum ersten Mal im Zoo. In den ukrainischen Zoos sind ja so viele Tiere verendet, an Hunger, an direkten Kriegseinwirkungen. Aber das wäre eine eigene traurige Geschichte. Die große Tochter spielt jetzt Geige und nimmt Unterricht bei ihrer ehemaligen Lehrerin meines Sohnes aus der Ukraine.

Meine ganze Sorge gilt jetzt meinem Mann. Ansonsten sind wir zufrieden und glücklich. Unser Haus steht ja noch – mit den Lieblingsspielsachen der Kinder und einem sprechenden Papagei, dem die Nachbarn, wie sie berichten, beibrachten, deftig auf Putin zu schimpfen… Natürlich würden wir gern wieder heim, aber den Kindern gefällt es jetzt auch hier. Nur in eine russische Ukraine wollen wir nicht zurück. Obwohl wir, wie fast alle in der Region Charkiw, fast nur Russisch sprechen. Die Russen lehren uns nun aber ungewollt, die eigene Sprache zu achten und zu verwenden. Und längst singt die kleine Veronika am liebsten die ukrainische Hymne – in der Nationalsprache. Und wir werden wohl alle mit der Zeit auf das Ukrainische umschwenken, um nicht die Sprache des Aggressors verwenden zu müssen. Ob dann der Papagei den Kriegsherrn im Kreml auch auf Ukrainisch verwünscht, wird sich zeigenи.

Aufgezeichnet am 28. August 2022

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