Irina & Gennadij – Wuhledar

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Die Ukraine hat die Propaganda-Schlacht gegen Russland verloren, vor allem im Donbas, wo „Neu-Russland“ in all den Jahren angekündigt, Zeitungen verkauft und Pässe angeboten wurden… Seit 2014 fand der Krieg dort statt.

Auch wir glaubten nicht daran, dass der Krieg kommen würde. Erst als die Tochter anrief und um ein Rezept für Insulin bat. Im Krankenhaus war schon die Hälfte der Ärzte war weg, eine Schwangere wartete auf Insulin. Es hieß, auch ich solle warten, ich gehe runter in den Korridor ins Erdgeschoss, und da knallt es plötzlich, alles dunkel, vernebelt. Wohin laufen? Draußen lauter Chaos, ein Auto unter Schutt, man konnte nicht einmal erkennen, was für eine Farbe, überall Schreie, hier und dort müssen Leute gerettet werden, der Fahrer liegt da, alle stehen nur rum, kein Blut, ich renne weiter, da steht wieder ein Mann verwirrt, am Boden eine Frau mit dem halben Kopf abgerissen, einem Mann fehlt der Arm, ein Leichnam zugedeckt, ich werde hysterisch, man versucht, mich zu beruhigen. Da kommt endlich mein Mann auf mich zu. 

Hinter meiner Frau schwarzer Qual, und man sieht, was da für ein Unheil hereingebrochen ist.

Wir hatten ja schon vorher große Versorgungsschwierigkeiten, hatten Wasser und Lebensmittel gehortet, aber niemand glaubte, dass wir das alles würden verlassen müssen. Wir hatten gehofft, das werde nicht lange dauern, Freunde meinten, das dauere nur ein paar Tage. Wir hielten noch eine Weile aus. Die meisten Läden nahmen nur noch Bargeld, nur eine Kette akzeptierte noch Karten, dann schlossen immer mehr Läden, kurz vor unserer Flucht war dann alles leer, und am letzten Tag schlossen alle Läden. 

Wir lebten in einem neunstöckigen Haus, jetzt ist es weitgehend zerstört. Nach dem 24. Februar war es aber unerwartet ruhig, kaum Angriffe, trügerisch. Deshalb dachten auch viele, man könne bleiben. Es gab sogar noch Gas, und aus den Dörfern lieferte man Milch, wir machten dann Quark zu Hause.

Aber dann immer der Gedanke: Hoffentlich fallen die Bomben nicht bei uns. Bis zu dem Treffer auf das Wasserreservoir. Da fiel die Heizung aus. Die Luftschutzkeller waren zu weit, dorthin sind manche ganz hingezogen mit ihren Sachen, wir hingegen blieben. 

Die Dokumente hatten wir immer bereit, die meisten hatten auch eine Notausrüstung für die Flucht, in jedem Fall dachten wir, wir würden nur für einige Tage bleiben, nicht einmal einen Monat, unvorstellbar, da kamen mir gleich die Tränen, wir wollten doch gleich wieder heim. Wir wussten, dass man die Leute evakuierte. Wir halfen sogar noch anderen mit Sachen, weil wir nicht glaubten, selbst flüchten zu müssen.

Und dann noch diese Geschichte: Meine älteste Tochter liebt in der Tschechei, während ihr sechzehnjähriger Sohn in der okkupierten „Volksrepublik Donezk“ geblieben war. Also musste sie Leute schmieren, um über Russland dorthin zu kommen, den Sohn zu holen und über Russland zu fliehen. Unser Enkel hatte mit unserem Schwiegersohn dort einige Wochen im Keller verbracht. Nicht einmal Brot hatten sie. Als er dann wieder einmal Brot sah, küsste er es vor Glück.

So viele Leute auf der Flucht, Schwangere, Alte, Kinder, immer die Angst, bombardiert zu werden. Man beruhigte uns und evakuierte uns mit Bussen. Ein Freund wollte bleiben. Aber vom 12. auf den 13. März brach die Hölle los, und wir brachen auf. Überall gähnende Löcher in den Häusern, wo bis vor kurzem noch Menschen lebten.

Ich stand immer noch unter dem Eindruck der Leichen, darunter mein Vorgesetzter, eine Lehrerin, viele Krankenschwestern, durch Splitter verletzt. 

Auf der Fahrt ging es über viele Umwege, wir sahen sogar Einheiten, die einander gegenüberstanden, wir kamen bis Pokrowsk per Bus und blieben dort zwei Tage in Ruhe. Doch als unsere Tochter aus dem Tagesbericht erfuhr, es werde auch hier unruhig, beschlossen wir weiter mit dem Zug nach Dnipro zu fahren. Auch die Tochter fuhr mit ihrer Familie weg, allerdings mit dem Auto. Und genau an dem Tag fing der Beschuss los. Splitter eines Geschosses zerschlugen die Fenster der Wohnung, die wir gerade erst verlassen hatten. Und so kamen wir also 15. März nach Dnipro und von da aus weiter nach Lemberg.

Der Zug nach Lemberg war überfüllt, die Leute standen, saßen auf dem Boden. Wir wurden mit allem, was wir brauchten, gut versorgt. Alle Viertelstunden kamen Freiwillige vorbei, die ihre Hilfe anboten. Wir warteten lange am Bahnhof, bis wir weiter nach Polen fahren konnten, wieder überfüllte Züge – bis Breslau. Die Polen waren großartig, wir wurden regelrecht gezwungen zu trinken und zu essen. Wir brauchten uns um rein gar nichts zu sorgen, der Zug würde ohne uns nicht weiterfahren… Von da ging es via Frankfurt/Oder nach Berlin. Aber wir wussten gar nicht recht, wie uns geschieht, wir fühlten uns wie erschreckte Kinder. 

In Pokrowsk stieg ein Mann aus dem Bus, der gar nicht recht begriff, wo er war, wie es weitergehen sollte. Wo soll ich hin? Völlig hilflos. Oft denke ich daran, wo er jetzt wohl ist. Wir wussten immerhin, wo die Reise hingehen sollte, denn in Herzogenaurach lebte die jüngere Tochter meines Mannes. Aber all die Leute, die niemanden im Westen hatten… In Berlin war alles gut organisiert, man fragte uns, wohin wir wollten, ob wir in Berlin bleiben möchten oder nicht, ob wir Hilfe brauchen, zu essen oder zu trinken, man zeigte uns Schlafplätze, wo wir dann auch übernachteten und eine Ecke vom 17. auf den 18. März fanden. Von Berlin fuhren wir nach Nürnberg, wo uns, wie man uns in Berlin gesagt hatte, Freiwillige in Empfang nehmen und alles erklären würden. Doch auf dem Bahnhof Nürnberg war niemand, ganz anders als in Berlin, wo überall Freiwillige im Einsatz waren. Wir dachten, vielleicht könnten wir nach Nürnberg kommen. Am Bahnhof war dann aber niemand, keine Freiwilligen, wir wurden nicht erwartet, auch in Berlin, aber in Nürnberg waren wir ganz allein. Ein junger Mann sprach Russisch und half uns, die Freiwilligen sollten erst gegen acht kommen, abends oder morgens? Mein Tel. war noch nicht umgestellt. Die Tochter hatte uns erst am andern Tag erwartet, aber sie holte uns dann natürlich ab. 

Aber es gibt noch immer Leute, die in Uhlerod bleiben wollten, sie kochten zum Teil auf der Straße. Ich sprach kürzlich mit einer Frau, die meinte, ihr Mann sei umgekommen, sie bleibe lieber bei ihm. Wo soll ich hin. Immer noch werden Tote in den Gärten beigesetzt, der Weg zum Friedhof ist zu gefährlich. Sie leben dort von dem, was man ihnen bringt. Unvorstellbar, wie sie dort leben, das Haus oft schon halb zerstört. Ich schicke jetzt Geld dorthin, um ein wenig helfen zu können. Aber was sollen die Leute im Winter machen? Noch ist Uhlerod ukrainisch…

Meine Tochter floh nach Polen. Sie lebt jetzt in der Nähe von Danzig, in Malbork. Es geht ihnen dort gut.

Meine Eltern waren während des Zweiten Weltkriegs hier in Deutschland, der Vater als Kriegsgefangener, die Mutter als Zwangsarbeiterin. Der Vater kommt aus Baschkirien. Am 21. Juni 1941 wurde er mit 19 Jahren eingezogen, er war zwei Monate an der Front, hatte aber noch nicht einmal den Eid geleistet. Er blieb in Gefangenschaft und wurde von den Amerikanern befreit; die Mutter wurde von einer Familie als Dienstmagd ausgewählt, und sie lebte nicht schlecht, bis die Amerikaner kamen. Sie stand vor der Wahl: hierbleiben oder heimkehren. Sie hatte ein gutes Verhältnis zur Hausherrin, fühlte sich wie die eigene Tochter, aber die Heimat ließ sie nicht los. Ihre Familie hatte es dort wahrscheinlich schwerer mit all den Kindern. Die deutsche „Mutter“ hätte sie auch gern behalten, sie brauchte sie für die Pflege der eigenen Mutter und hätte ihr sogar das Haus vermacht, aber sie wollte heim. Meine Mutter war die älteste der zehn Geschwister. Sie erzählte immer wieder, wie einmal die Deutschen in die Häuser kamen und Proviant holten. Als sie ihre Kuh fanden, holten sie das Tier aus dem Stall, begriffen dann aber, dass die Familie ohne die Kuh nicht überleben würde, – und ließen die Kuh da, als sie all die Kinder sahen. Den Vater schickte man nach der Heimkehr nicht mehr zurück in den Ural, sondern zur Strafe in den Donbas.

Auch die Mutter sprach nur Russisch. Mein Vater kommt als Armenier aus Georgien, die Mutter war Ukrainerin, gesprochen wurde dann Russisch in der Familie. Aber jetzt sprechen wir auch gern Ukrainisch.

Für mich war es am Anfang hier so schwer. Ich war ja immer zur Arbeit gegangen. Hier verstehe ich niemanden, ich hatte nie eine Fremdsprache gelernt, ein wenig Armenisch kann ich und Aserbaidschanisch. Aber jetzt fühle ich mich unbeschwert, angekommen, dort hingegen gibt es kein Leben mehr. Wir hatten dort drei Bergwerke, zwei stehen jetzt unter Wasser; selbst wenn der Krieg morgen aufhören würde, könnte man das nicht wieder aufbauen. Die Wohnung ist dahin, es war eine Puppenwohnung, aber jetzt ohne Fenster. Ich muss mich davon lösen, Hauptsache wir leben, wir freuen uns an der Sonne, am Wald, an den Vögeln. Anfangs weinte ich ständig. Der Bruder ist ja noch dort, und er leidet dort Hunger, hat Probleme. Aber ich kann das nicht ändern, gut nur, dass die Tochter in Polen gut untergekommen ist. Trotzdem zieht es mich immer wieder zurück, ich würde gern sehen, was übrig ist von unserer Stadt.

2014 hatten wir ein halbes Jahr lang überhaupt kein Leitungswasser. Draußen standen Zisternen vom Bergwerk mit Brauchwasser. Trinkwasser mussten wir kaufen. Doch der Krieg selbst war weit von uns entfernt, wir sahen nur die Panzer, die an uns vorbeifuhren und man baute einen neuen Hubschrauberlandeplatz. Wir dachten, man würde den angreifen, aber die Bomben gingen auf das Krankenhaus nieder. 

Schlimm, dass auch in Deutschland viele der russischen Propaganda glauben und meinen, die Ukraine werde befreit und gehöre sowieso zu Russland.

Übrigens sprachen wir alle Russisch, obwohl man in Russland anderes behauptet. Jetzt aber ist das Russische toxisch. 

Aufgezeichnet am 28. August 2022

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