Jewgenija – Kiew

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Wir waren fest überzeugt, es würde nichts passieren, wir machten uns sogar noch lustig über alle, die ihre Fluchtkoffer packten. Ein paar Sachen für den Winter, die Dokumente, die würde man gegebenenfalls schon schnell zusammenhaben. Aber Krieg? Das kann ja gar nicht sein, und wenn, dann würde ich nie unser neunstöckiges Haus mit all den Nachbarn verlassen, die wir schon so lange kannten.

So dachte ich noch bis zum 23. Februar, diesem letzten, völlig unschuldigen Tag, als ich noch tanken wollte, aber da wurde gerade Treibstoff angeliefert, und ich wollte nicht so lange warten. Ich wollte ja noch schnell Mascha vom Vorschulunterricht abholen. Ein wenig Sprit hatte ich ja noch im Tank. Tags darauf standen die Autos dann den ganzen „Prospekt des Sieges“ in derartigen Schlangen vor der Tankstelle, dass sogar die Ausfahrt mit einer Schlange blockiert war.

Ja, diesen 24. Februar werde ich nie vergessen. Maschas Taufpate, ein Militär, rief an und meinte, es seien Raketen auf Kiew unterwegs, wir sollten runter in den Luftschutzkeller. Doch wir hatten ja gar keinen. Ich wohnte mit meiner Tochter und dem 21jährigen Sohn im neunten Stock eines Wohnheims für Dozenten. Wir stiegen in den Keller, der eigentlich für Unterrichtszwecke gedacht war und, wie wir erst später erfuhren, im Fall der Fälle zu einem Massengrab hätte werden können, weil er gar nicht für Schutzzwecke geeignet war.

Das Schrecklichste aber war für mich das Heulen der Sirenen. Immer wenn ich hier in Erlangen eine Sirene höre, überfällt mich wieder Panik. Vorher kannte ich den Klang gar nicht. Und erst recht wusste ich nicht, was zu tun war, wenn eine Sirene aufheult. Instinktiv aber wurde mir klar, dass Gefahr im Verzug war. Als ich zum ersten Mal die Sirene hörte, nahm ich denn auch gleich fünf Stufen auf einmal. Alles ging im Kopf durcheinander: War wirklich der Krieg ausgebrochen? Was würde mit meinen Kindern, was mit den beiden alten Hunden? Ob er anrufen würde, um mir zu sagen, was zu tun sei? Oder würde mir der fünfseitige Handzettel helfen, der auflistete, was man in den Fluchtkoffer packen sollte? Aber war es wirklich möglich, dass uns das „Brudervolk“ überfallen hatte? – Jetzt ist alles aus, ich schloss mit allem und allen ab, verabschiedete mich vom Leben. Seither habe ich eine ganz andere Einstellung zu Menschen und Dingen. Alles ist nur noch so vergänglich.

Im provisorischen „Luftschutzkeller“ hielten es die Hunde kaum aus, von uns Menschen gar nicht zu sprechen. Es war ja nichts vorbereitet, wir musste improvisieren, die Tafeln rausstellen, die Stühle zusammenrücken, auf denen wir im Sitzen schliefen, die Fenster mit Spanplatten verkleiden. Immerhin gab es eine Toilette. Und immer wieder diese Sirenen und Einschläge, von denen wir nie genau wussten, wo sie wen trafen und wann die nächsten kommen würden.

In der zweiten Nacht machten wir es uns schon bequemer und legten Matten aus. Tagsüber gingen alle kurz in die Wohnungen hoch, machten sich frisch, zogen sich um, bereiteten auf die Schnelle etwas zu essen zu, mein Sohn kaufte ein. Wir hatten ja alle keine Vorräte. Draußen herrschte große Kälte, und alle hatten Angst, die Straße zu überqueren, um zu den Geschäften zu kommen.

Der erste Tag des Krieges war einfach nur schrecklich. Mein Sohn hatte im Keller auf einer Schulbank geschlafen. Die zweite Nacht erlebte ich als schicksalshaft. Damals hieß es, die Raketen kämen immer näher, und ich dachte schon, dann sei zumindest alles schnell vorbei. Wenigstens bis zum 3. März, wo Maria im Kindergarten eigentlich ein Fest hätte feiern sollen. Derweil wurden die Explosionen immer schlimmer. Draußen überall Ruinen, durch die verkleideten Fenster sah man den Feuerschein und die Flammen. Und dann hieß es, unser Wohnviertel werde bombardiert. Es war mitten in der Nacht, als eine Nachbarin anrief – sie hat Zwillinge im Alter von Maria – und sie bat mich, jemanden anzurufen, der aufsperren könnte. Sie bittet mich Angsthasen um Hilfe?! Ich fürchtete, auch nur einen Mucks zu machen. Ich zitterte die ganze Zeit, ich konnte Mascha für keine 30 Sekunden allein zurücklassen, und jetzt raus auf die Straße und der Nachbarin helfen, uns zu finden? Ich starb hundert Tode. Doch was tun? Ich sage also im Luftschutzkeller, dass man den Leuten auf der Straße helfen sollte, uns zu finden. Wir begannen, vorsichtig rauszugehen, sie zu suchen. Schrecklich. Ich fürchte mich so vor Explosionen. Wir suchen sie weiter, können sie nicht finden, suchen weiter, sehen sie endlich, zeigen den Weg, und sie kommen zu uns gelaufen, alle am Leben. Es ist noch einmal gutgegangen. Wie sollte ich zur ihr kommen? Würde das Haus noch stehen? Dann wieder Nachrichtenlesen, Feuerschein, eine Brücke teilweise zerstört, später sah ich, dass da Panzer waren. Totenstille auf der Straße. Die Nächte wurden immer unbequemer mit den Hunden und den Kindern, alle angezogen, die Daunenjacke drüber, die Schuhe an den Füßen, um jederzeit fluchtbereit zu sein. Nicht ohne Grund, wie sich bald herausstellen sollte. In der Nähe von uns lag eine Militäreinheit, das tatsächliche Ziel des Beschusses. Und später ging dort sogar eine Rakete nieder. Wie sollte ich das meiner kleinen Tochter erklären? Wie sollte ich mit den Hunden Gassi gehen?

Und dann: Für mich war Russisch immer die Muttersprache, ich hatte jede Menge Kontakte zu Russen, schaute sogar gern russisches Fernsehen. Und jetzt deklarieren uns die Russen zu einer „Unter-Nation“, zu einer „Nicht-Nation“, erklären uns zu dem, was die Deutschen aus den Juden machten. Für mich noch immer unbegreiflich.

Der Druck wurde immer größer für mich. Ich hörte zu essen auf. Und die Läden leerten sich ja. Nicht einmal mehr um mich frischzumachen, wollte ich noch raus, weil ich glaubte, im Keller sei es sicherer. Und mit nassen Haaren wollte ich auch nicht in die Kälte raus. Es kam also die Zeit, wo sogar mein Sohn mir riet, die Flucht zu ergreifen. Aber ich hatte niemanden in der Westukraine, nur entfernte Bekannte in Ungarn. Außerdem waren da ja nur noch ein paar Liter Benzin im Tank. Auch zum Bahnhof war es mir zu weit. Und da ruft am 6. März eine Freundin an und bietet zwei Plätze – für mich und Maria – in einem Fluchtauto an. Sie selbst nämlich sei von einer Bekannten, die auch aus Kiew stammt und schon seit Jahren in Erlangen am Bezirksklinikum arbeitet, gebeten worden, ihre demente Mutter nach Deutschland zu bringen. Zunächst schloss ich diese Variante völlig aus. Wie sollte ich den Jungen, der bald einberufen werden könnte, und die beiden Hunde zurücklassen?! Ich hatte jedoch nur bis zum Abend Bedenkzeit, der Fluchthelfer würde sonst die Plätze anders besetzen. Viel mitnehmen durfte ich aber nicht, meinte die Freundin, es sei ein kleines Auto. Also keine Bettwäsche und dergleichen, nur die Diplome, die Ausweispapiere.

Dann kommt am Abend der Anruf: „Fährst du mit?“ Meine Mutter heult, will mich nicht gehen lassen. Aber dann steige ich doch aus dem Keller hoch in die Wohnung, um mir die Sache noch einmal zu überlegen. Ich hatte mich noch immer nicht entschieden, und der Koffer war ungepackt. Es gab ja keinen Plan, und dann war da all die viele Schmutzwäsche, die sich angesammelt hatte. Im Kopf ging es drunter und drüber – so wie auch heute noch, wenn ich davon erzähle. Schließlich stopfte ich ein paar warme Sachen und Spielzeug in den klitzekleinen Koffer und dachte dauern daran, dass ja alle Straßen beschossen wurden. Außerdem hatte ich noch immer keine Vorstellung davon, wohin es überhaupt gehen sollte.

Dann kam das Auto, um das vier Frauen standen, meine Freundin mit der dementen Mutter der Bekannten aus Erlangen, meine Mutter, die kleine Maria und ich. Über den Abschied von meinem Sohn, der mit den Hunden zu meinen Eltern fuhr, kann ich bis heute nicht sprechen… Auch im Auto sprachen wir die ersten Stunden gar nicht miteinander. Wir waren alle völlig durch den Wind. Nur der Fahrer wusste, was zu tun war. Er kannte sich aus und raste wie verrückt. Einmal geriet er auch an einen Posten, der ihn mahnte, nicht so schnell zu fahren, weil man ihn sonst für einen Feind halten und das Feuer auf ihn eröffnen könnte. Vor allem während der Sperrstunde. Doch unser Fahrer kannte alle Schleichweg, umkurvte noch die längsten Staus und Sperren, wählte einmal sogar einen Waldweg als Abkürzung. Als wir zum ersten Mal tanken mussten, hieß es, hier sei es ruhig, und wir konnten endlich aufatmen. In Sicherheit fühlten wir uns aber erst an der Grenze zu Polen und dann in Chełm, wohin uns Ehrenamtliche in einem Bus brachten. Fast zum Lachen, als da die demente Großmutter fragte, was wir für die Fahrt zu zahlen hätten. Natürlich war alles kostenlos – ebenso wie die großzügige Versorgung mit Tee und Essen mitten in der Nacht. Das tat richtig gut bei der schrecklichen Kälte. Man brachte uns in ein Auffangzelt, das richtig überfüllt war, Viele wussten nicht, wohin es weitergehen sollte. Nach Deutschland wollten damals nur wenige. Wir waren nun erst einmal sicher und fühlten uns unglaublich glücklich. Endlich hatten wir den Alptraum hinter uns!

Aber ich fühlte mich auch wie eine Verräterin; ich hatte nicht nur die eigenen Eltern und den Sohn, sondern auch die beiden Hunde zurückgelassen. Immer wieder kommt die Angst, sie nie wiederzusehen. Mein Junge ist noch nicht reif für den Krieg; bisher wurde er noch nicht eingezogen, und hoffentlich bleibt ihm die Front erspart.

Die Bekannte meiner Freundin holte uns schon fünf Stunden nach der Ankunft in Polen ab und brachte uns mit dem Auto nach Erlangen – mit einer Übernachtung in einer Jugendherberge. Doch das erste Bett in Polen vergesse ich nie: Wir lagen dort zu dritt: meine Freundin, meine Tochter und ich. Aber endlich keine Sirenen mehr, keine Explosionen. So muss es sich im Paradies anfühlen…

In Erlangen, hier im Wohnheim des Klinikums am Europakanal, fühlen wir uns bestens aufgehoben. Nur einmal holte mich nochmals der Geist des Krieges ein, als ich beim Einkaufen eine Sirene hörte. Es war natürlich ein Probealarm, aber für meine Tochter und mich hörte es sich an, als säßen wir wieder in unserem Bombenkeller. Ich hatte einmal, noch vor dem Krieg, jemanden gefragt, wie eine Sirene denn klinge. Die Antwort lautete: „Das merkst du gleich.“ So war es dann auch.

Natürlich ist hier schrecklich viel Papierkram zu erledigten, aber ich bin selbstverständlich sehr zufrieden und dankbar für alles. Ich schwanke noch immer, ob ich bald wieder zurück nach Kiew soll oder doch besser hier in Erlangen bleibe. Ich könnte mir eine Umschulung vorstellen. Aber in der Heimat lebt auch noch mein kranker Vater… Ich will nicht riskieren, plötzlich ein Arbeitsangebot zu bekommen, während ich in der Ukraine bin. Andererseits wäre es ja ein Krankenbesuch. Ich weiß einfach nicht.

Die kleine Maria jedenfalls will heim, sie tut sich schwer mit der Integration. Aber sie wird sich wohl auch noch an die Situation gewöhnen. Im März jedenfalls war ich noch euphorisch, jetzt fühle ich mich ständig hin- und hergerissen. Mir gefällt Erlangen wirklich: eine liebens- und lebenswerte Stadt, obwohl ich schon in dritter Generation in dem riesigen Kiew lebe.

Was mir nur nie in den Kopf gehen wird: Ich war ja früher nie gegen Russland, gegen die Russen, hielt sie für das Brudervolk. glaubte an das friedliche Zusammenleben mit den Russen. Aber jetzt, wo sie uns alle zu Faschisten erklärt haben und dafür sogar unsere Kinder sterben müssen… Dass ich wohl nie mehr russische Sender schauen werde, ist noch die geringste Auswirkung dieses Krieges gegen unser Volk.

Aufgezeichnet am 4. August 2022

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