Ich sehe die Sache philosophisch. Früher kämpften die Zaren gegeneinander, jetzt geht es eben weiter, wir streiten uns ständig um diesen oder jenen Flecken Erde.
Ich arbeitete in Kiew, in einer der größten Banken mit 6.000 Mitarbeitern. Die letzten Tage vor dem Krieg bereiteten wir alles für den Fall der Fälle vor, wir befanden uns drei Tage im Probealarm. Dieser Zustand machte alle aggressiv, niemand wollte das machen, weil niemand glaubte, es würde so kommen, wie es dann doch kam. Alle dachten, die Diplomatie würde schon noch einen Ausweg finden.
Als Triathletin musste ich immer schon – drei Mal die Woche – um 5.20 Uhr von Butscha los, um mein Pensum zu schaffen. Auf der Strecke nach Kiew sah ich jeden Tag unsere Panzer, die aus Richtung Weißrussland kamen. Nachts brachte man sie auf riesigen Transportern. Also fragte ich meinen Trainer, einen Berufssoldaten, was das zu bedeuten habe, worauf er meinte, es sei ernst, man müsse sich auf die Verteidigung vorbereiten. Aber das kam nicht so richtig an im Kopf. Auch unter der Familie sprachen wir ja ständig darüber, aber nur im Spaß, und wir meinten im Scherz, wir könnten ja zur 60 km entfernt lebenden Mutter fahren, just in die Gegend, wo dann später so viele umkommen sollten.
Am 24. Februar kam dann der Anruf von der Schwester um 6.30 Uhr: „Los, wir fahren zur Mutter!“ Aber ich wollte es immer noch nicht richtig glauben. In der Dusche hörte ich die erste Explosion: Der Hostomel-Flughafen wurde bombardiert. Dann rief eine Freundin an, die schon aus Donezk geflohen war, und berichtete, auch Kiew werde bombardiert. Sie kenne diese Geräusche…
Um 7 Uhr verließen wir Butscha bereits mit zwei Autos. Dabei dachten wir freilich, wir kämen gleich wieder zurück. Die Läden hatten noch geschlossen, aber schon bildeten sich Schlangen. Auch mein Mann meinte, der Spuk dauere nicht lang. Wir tauschten dann die Autos, er nahm mein kleines, damit wir in seinem mehr Platz hätten. Bei der Mutter angekommen, hatte ich dann den ganzen ersten Tag zu tun, um online die interne Kommunikation in der Bank am Laufen zu halten, Buchhaltung und Marketing konnten ja nicht einfach abbrechen. Ich sah dann erst abends im TV, wie die Städte bombardiert wurden, wie die Russen in Hostomel Luftlandetruppen absetzten. Nun war klar, der Gegner würde gleich den ganzen Militärflughafen zerstören.
Butscha war dann schon am dritten Tag völlig besetzt. Wer dort blieb, lebte in den Kellern. Wir hatten eine Wohnung in einem mehrstöckigen Haus, das glimpflich davonkam. Auf den Videos waren Soldaten zu sehen, die aus den Wäldern kamen, bevor später auch noch die Panzer einrückten. Die Infanterie hatte da schon alles für die große Schlacht vorbereiten. Von Weißrussland kamen dann die großen Verbände nach. Auch aus der Entfernung bei der Mutter bekamen wir das alles am zweiten Tag mit: überall Hubschrauber über uns, die Raketen abschossen, um den Weg für die Panzer freizumachen. Wir sahen vom Haus aus, wie das ablief. Deshalb packt mich bis heute die nackte Angst, wenn Hubschrauber in der Luft sind.
Es ging dann hin und her, sogar Jagdbomber flogen Angriffe. Zwei Tage lang dauerten diese schlimmen Schlachten. Auch nachts sah man, wie Borodjanka bombardiert wurde. Wir lebten in Koroliwka, einem kleinen Dorf, aber wir hörten alles: die Luftangriffe, die Explosionen, den Lärm der Panzer und der Ketten.
Die ukrainische Armee zog sich zurück, die Brücken wurden in Butscha und Irpen gesprengt, um die Russen aufzuhalten. Am vierten Tag kamen die Kämpfe aber noch näher, nun griffen die Panzer ein, es war zu sehen, wie Häuser zerschossen waren. Wir hielten uns die ganze Zeit im Haus auf, der Keller war aber nicht als Schutzraum geeignet. Dafür gab es da im Haus einen gemauerten Raum ohne Fenster, und da saßen wir, bis die Hubschrauber wieder abdrehten. In Kiew herrschte unterdessen Panik. In all dem Durcheinander fuhr mein Mann nach Kiew, wir haben dort eine zweite Wohnung, wo er einige Sachen packte und unsere Nachbarin mit Kind sowie ein weiteres Ehepaar mit Kind evakuierte. Und so waren wir dann in einem Haus mit drei Zimmern zu zehnt.
Als Butscha dann eingenommen war und die Russen sich in den Häusern festgesetzt hatten, wollten wir in die Westukraine zu Verwandten. Aber wie? Wir sahen ja, wie die Fluchtwege und Autos beschossen wurden. Wir setzten uns dann dennoch in drei Autos und nahmen alle denkbaren Umwege, wir kannten uns ja aus. Die Panzer und das schwere Gerät blieben gottlob auf den Hauptstrecken. Wir kamen gut durch, sahen aber natürlich überall liegengebliebene Fahrzeuge, zerstörtes Militärgerät. Was für ein Aufatmen, als wir schließlich auf sicherem Gebiet waren, wo unsere Leute die Oberhand hatten. Am 1. März erreichten wir wohlbehalten Lemberg. Bis dahin fuhr mein Mann mit, die Eltern blieben, sie waren nicht rauszukriegen, nicht umzustimmen. Doch auch in Lemberg herrschte Panik, alles war voller Leute, ein irres Durcheinander, während ich noch immer online weiter daran arbeitete, die Bank am Laufen zu halten In Lemberg konnten wir zwei Tage bei einer Tante in einem Zimmer bleiben, aber wir waren zu viele, der Platz reichte natürlich nicht für länger.
Die allgemeine Versorgung mit dem Lebensnotwendigen war schon bei den Eltern im Dorf zusammengebrochen, am zweiten Tag funktionierte dann auch die Telekommunikation nicht mehr: kein Internet mehr. Die Großbäckereien und Läden gaben aus, was sie noch hatten, die Vorräte in den Kellern reichten, auch bei meinen Eltern. Außerdem brachte mein Mann aus Kiew genug mit. Auch in Lemberg brauchten wir nicht Hunger zu leiden. Es war sogar warm, wir hatten Gas. Am vierten Tag fiel dann aber der Strom aus, dafür lief das Internet wieder. Wasser hatten wir im Dorf aus dem Brunnen mit Strom; diesen einen Tag holten wir es von Hand hoch. In Lemberg arbeiteten alle Betriebe. Bei den Verwandten und in Lemberg sind noch immer viele aus der ganzen Ukraine, vor allem, wenn sie dort Arbeit fanden.
Aber für uns wurde es zu eng. Wir hatten freilich keine Ahnung, wohin wir fahren sollten. Meine Arbeit, das war mir klar, würde ich so oder so verlieren, das Backoffice würde bald schließen. Da erzählte mir eine Bekannte von ihrer Flucht nach Deutschland. Sie war bereits am 27. Februar geflüchtet und in Burghausen gelandet, an der Grenze zwischen Deutschland und Österreich. Wir wollten zunächst zu ihr nach Bayern. Wir, drei Frauen, drei Kinder, zwei Autos.
Wir fuhren über Ungarn, blieben dort in der Nähe von Budapest eine Nacht im Hotel, wo wir wie normale Gäste zahlten. Die Grenzen waren offen, aber die Leute standen tagelang. Über Dinkowo, der wohl ruhigste Grenzübergang, kamen wir von den Karpaten her nach Ungarn. Wir baten die Ungarn um nichts, und sie boten ihrerseits auch nichts an. Am Abend hatte ich dann aber ein Gespräch, das uns Angst machte. Unsere Kontaktleute in Bayern meinten, wir könnten nur ein paar Tage bei ihnen bleiben, dann würden wir eine Wohnung für 800 Euro ohne Möbel nehmen müssen. Natürlich viel zu teuer für uns. Eine Freundin hatte Verbindung zu einer Gruppe von Ehrenamtlichen, denen sie erzählt hatte, es werde in Deutschland schwierig für uns. Und da erfuhren wir von einem Haus in der Wachau, wo wir umsonst für einige Zeit unterkommen könnten. Erst vor Ort begriffen wir, was die Wachau ist. Und erst später erzählten uns Freunde, sie seien hier als Touristen gewesen. Kein Wunder!
Wir wollten sehen, ob wir hier länger bleiben könnten. Wir dachten ja zunächst, alles sei in drei Monaten vorbei. Am 4. März kamen wir dann hierher an die Donau. Unterdessen hatten die Russen auch das Dorf meiner Eltern eingenommen und alles zerstört. Die beiden flüchteten in die Karpaten, wo eine Nachbarin ein Haus hat und wo sie unterkommen konnten. Drei Monate blieben sie dort und kehrten erst jetzt zurück. Anfang Mai zogen ja die Russen ab. Aber Mama erzählt, man könne da nicht mehr leben.
Der Rückzug der Russen vollzog sich in der Gegend eigenartig. Es geschah alles ganz unerwartet an einem Tag. Ohne Kämpfe, ohne Eingreifen der ukrainischen Armee. Es gab wohl einen Rückzugsbefehl. Sie verließen die Region einfach mit all ihrem Kriegsgerät. Und zwar aus der ganzen Region Kiew. Anfang April war das, aber da begannen dann die schweren Kämpfe im Süden und im Osten. Vielleicht war das eine politische Absprache der Art: Nehmt nicht die Hauptstadt, holt euch den Süden und Osten. Sie waren ja lange vor Kiew gestanden, während unsere Streitkräfte kaum angriffen.
Die Russen nahmen die Gefangenen mit, holten sich alles aus den Häusern. Wenn Männer in den Häusern waren, wurden sie gefangengenommen, vor allem, wenn sie im Heimatschutz tätig war. Mein Nachbar war zwei Monate in Gefangenschaft, er wurde dann ausgetauscht. Man hatte ihn durch die halbe Ukraine gekarrt, völlig unklar warum, er wurde wohl als Tauschwährung benutzt. Ich weiß auch gar nicht, was da im Detail passierte. Mein Mann erzählt mir längst nicht alles, was er weiß, er will meine Psyche schützen.
Unmittelbar nach dem Abzug der Russen ließ man niemanden nach Butscha hinein, auch nicht meinen Mann, der sich nur in der Wohnung umsehen wollte. Die Stadt war geschlossen, man ließ nur Journalisten rein, um alles festzuhalten, was man vorgefunden bzw. was die Russen hinterlassen hatten. Ich kenne mich mit Public Relations aus, die Ausbildung für Öffentlichkeitsarbeit hatte ich zum Teil in Russland erhalten, wo man diese Sache so gut beherrscht, wie vielleicht nirgendwo auf der Welt.
Ich sah dann Videoreportagen. Es stimmt alles mit dem Massengrab – 200 Tote, die erst später exhumiert wurden. Unser Haus wurde von einem Panzer beschossen, aber der Schaden hält sich in Grenzen, nur die Fassade und die Fenster wurden in Mitleidenschaft gezogen. Wir kamen recht glimpflich davon, wir lebten ja im obersten Stock, auf der achten Etage, und unsere Wohnung wurde nicht geplündert, wohl weil wir ein gutes Schloss hatten… Die Marodeure fanden ja genug leichte Beute, wozu sich große Mühe machen?!
In unserer Wohnung lebt jetzt meine Patin, deren Haus in Butscha völlig zerstört wurde, mein Mann ist ganz nach Kiew gezogen, wo wir eine kleine Zweitwohnung haben.
Zunächst wollten wir möglichst bald zurück in die Heimat. Aber jetzt möchte ich, dass mein Sohn – er ist gerade ins Gymnasium gekommen – hier die Schule abschließt. Gleichzeitig erhielt er online-Unterricht, einen ganzen Monat lang, nur auf Ukrainisch. Ich nehme ihn viel zum Training mit, vor allem zum Schwimmen. Auch er denkt dauern an unser Zuhause. Er hat ja alles gesehen, alles mitbekommen. Ab einer bestimmten Zeit hatte er gar keine Angst mehr, hatte er sich an die Sirenen und Einschläge gewöhnt. Nur, wie es in ihm drinnen aussieht, weiß niemand.
Gott sei Dank läuft es mit der Schule gut. Und ich wollte von Anfang an Arbeit und keine Sozialhilfe annehmen. Ich bekam dann auch gleich eine Anstellung in einem Hotel, bei dem ich mich hier vor Ort und in der Zentrale in Wien beworben hatte. Ich war mir für nichts zu schade: Putzen, Abwasch… Und es hat geklappt. Der Manager, ein polyglotter Ungar, der auch Russisch spricht, nahm mich sofort und meinte, ich solle im Spa-Bereich für das Wohl der Gäste sorgen. Das tue ich jetzt an zwei Tagen die Woche. Und dann fand unsere Hausherrin für meine Schwester und mich auch noch Arbeit in einem Institut hier, wo wir eine Dokumentation auf Englisch anzufertigen hatten. Ich hatte dann also jetzt zwei Arbeitsstellen, während meine Schwester nur im Institut beschäftigt war. Diese Arbeit war aber befristet und endete jetzt. Aber wir inserierten gleich wieder und fanden in Dürnstein Arbeit in einem Andenkenladen. Da arbeite ich jetzt als Verkäuferin, man braucht dort Leute mit Englischkenntnissen.
Dann dachten wir, im September zurückkehren zu können, wir hatten schon alles vorbereitet. In Butscha ist ja wieder alles hergerichtet, nur in die Parks und in den Wald darf man nicht – wegen der Splitterbomben und Tretminen. Da gibt es immer noch Opfer, schreckliche Dinge passieren da, wenn man nicht achtgibt und nicht da bleiben, wo alles geräumt ist. Wir wären also zurückgekehrt, aber mein Mann ist strikt dagegen, die Lage sei noch zu gefährlich. In letzter Zeit gibt es ja wirklich immer wieder Angriffe auf die Region Kiew. Die Lage kann jederzeit eskalieren. Vor allem die Kinder sollten noch nicht zurück. Also bleiben wir hier, mindestens noch dieses Schuljahr. Jetzt leben wir alle in Krems in zwei kleinen halbmöblierten Wohnungen. Wir brauchen ja nicht viel und wollen auch nicht viel ansammeln, das wir dann später wieder verkaufen müssen. Ich kann gut Vollzeit arbeiten, weil mein Sohn bestens ohne mich zurechtkommt, er macht alle Wege mit dem Rad, ich bin da sehr entspannt.
Zu Hause sprachen wir Russisch. Die Eltern kommen aus Pripjat bei Tschornobyl. Sie wurden damals mit meiner älteren Schwestern – die Mutter war mit mir schwanger – evakuiert und dachten, wie wir heute, sie würden schnell zurückkommen. Die Mutter hat auch viel Weißrussisch in der Sprache. Mein Mann stammt aus Kiew und spricht Russisch, und mich hat ein Kunde aus Russland auf ein sauberes Russisch gedrillt. Unser Sohn spricht schon lieber Ukrainisch, seit Ausbruch des Krieges sind mein Mann und die Eltern bewusst auf Ukrainisch umgeschwenkt. Ich hingegen spreche noch immer lieber Russisch. Man fragt mich oft, warum ich die Sprache der Aggressoren spreche. Darauf antworte ich immer: Aber ich lerne doch jetzt auch die Sprache eines Mannes, der halb Europa in Schutt und Asche legte.
Früher sprachen 80% Russisch, das ist jetzt vorbei. Aber ich bin gegen jede Zurücksetzung des Russischen, die Sprache ist nicht schuld. Meine Eltern lernten ja auch Deutsch. Ich will auch keine Verbrennung von russischen Büchern, kein Verbot von russischer Kultur. Mein Großvater war als Kriegsgefangener in Österreich und arbeitete bei einer Familie auf dem Bauernhof. Gut möglich, dass er hier sogar eine Freundin hatte. Er war ja ein schöner Mann. Vielleicht habe ich hier sogar Verwandte… Die Sprache jedenfalls ist nicht schuld, und auch die Russen sind nicht alle gleich.
Aufgezeichnet am 16. Juli 2022